Joseph Joachim Raff
RAFF, JOSEPH JOACHIM * Lachen (CH) 27. Mai 1822 | † Frankfurt/M. 24. Juni 1882; Komponist, Musikpublizist, Pädagoge
Nachdem er seine Kindheit in Lachen am Oberen Zürichsee verbracht hatte, besuchte Joachim Raff das Gymnasium in Rottenburg sowie das Jesuitenkollegium in Schwyz. Während seiner Stellung als Lehrer in Rapperswil (1840–44) setzte sich jedoch seine Musikbegeisterung durch: Auf Anraten von Felix →Mendelssohn Bartholdy versuchte er über viele Jahre hinweg, sich als Komponist, Verlagsmitarbeiter und Klavierlehrer über Wasser zu halten. Durch die Vermittlung von Franz Liszt erhielt er Anstellungen in Köln (1845–47), Stuttgart (1847–49) und Hamburg (1849), ehe er im Januar 1850 nach Weimar zog und Liszts Assistent wurde.
Da sich Raffs Verhältnis zum Liszt-Kreis zunehmend verschlechterte, zog er im Jahr 1856 zu seiner Braut Doris Genast nach Wiesbaden, die am dortigen Theater als Schauspielerin wirkte. Aufführungen seines Konzertstücks La fée d’amour (gespielt von Aloys Baldenecker), seiner heute verschollenen ersten Sinfonie sowie der Oper König Alfred hatten im Vorjahr seine Übersiedlung begünstigt. In der Kurstadt gab Raff am Geyer’schen Institut bis zu 40 Klavierstunden pro Woche (unter vielen anderen unterrichtete er die Tochter von Giacomo Meyerbeer), besorgte das Feuilleton der Nassauischen Zeitung und war als Musikpublizist für weitere Zeitschriften tätig. Zudem lieferte er den Verlagen Schuberth und →Schott zahlreiche anonyme oder unter fremdem Namen erschienene Arrangements. Mit der Ode au printemps op. 76 für Klavier und Orchester, die Raff Betty Schott gewidmet hatte, der Orchestersuite op. 101 und der zweiten Sinfonie op. 140 edierte der Mainzer Verlag als einer der ersten Orchesterwerke Raffs. Als Richard Wagner anfangs der 1860er Jahre in Biebrich weilte, trat Raff mehrfach als Vermittler zwischen diesem und Schott ein – so veranlasste er unter anderem die Publikation der Wesendonck-Lieder und orchestrierte Wagners Huldigungs-Marsch. Von Anfang seines Wiesbadner Aufenthalts an nahm Raff Einfluss auf die Programmgestaltung, indem er befreundeten Musikern wie Dionys Pruckner oder Hans von Bülow Engagements vermittelte.
Mit dem zunehmenden Erfolg, den Raff in erster Linie seiner Kammermusik sowie der Sinfonie Nr. 1 An das Vaterland (op. 96) zu verdanken hatte, die 1862 ein Preisausschreiben der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde gewann, konnte Raff den Lebensunterhalt seiner Familie mit dem Ertrag seiner Kompositionen bestreiten. Insbesondere die Sinfonien Nr. 3 (Im Walde, op. 153) und Nr. 5 (Lenore, op. 177) sowie das Klavierkonzert op. 185 (im Aug. 1873 von Hans von Bülow in Bad Homburg aus dem Manuskript gespielt; Didaskalia 27. Aug. 1873) erzielten weltweit Erfolge. Zahlreiche Werke Raffs wurden in Wiesbaden unter der Leitung von Wilhelm Jahn (Sinfoniekonzerte im Wiesbadner Theater), Karl →Müller-Berghaus und dessen Nachfolger Louis Lüstner uraufgeführt. Zu den Widmungsträgern der konzertanten Werke zählten Hans von Bülow, August Wilhelmj (Violinkonzert op. 161), Friedrich Grützmacher und Hugo →Heermann. Letzterer dürfte eine wichtige Rolle bei der Berufung Raffs nach Frankfurt gespielt haben.
1877 wurde Raff als erster Direktor des im September 1878 eröffneten Hoch’schen Conservatoriums in Frankfurt engagiert. Er beabsichtigte, gleichermaßen Dozierende aus dem Lager der „Neudeutschen“ wie aus dem Lager der „Konservativen“ zu berücksichtigen. Neben Clara →Schumann, Julius →Stockhausen, Hugo Heermann und Bernhard Cossmann verpflichtete Raff vor allem junge Lehrer aus der Umgebung, darunter Anton →Urspruch, Gotthold Kunkel, Carl Fälten (der an der Uraufführung mehrerer Raff-Werke beteiligt war) und Maximilian Fleisch, später Max Schwarz und den Schweizer Bertrand Roth als Ersatz für die bald ausscheidenden Klavierlehrer Joseph Rubinstein und Karl Heymann. Unter seine Schülerinnen und Schüler reihten sich Edward MacDowell, Heinrich Spangenberg (der seine Erinnerungen an Raffs Unterricht niederschrieb), Theodor Müller-Reuter und Mary Wurm.
Bereits am Ende des ersten Schuljahres spitzte sich das Verhältnis zwischen Raff und Stockhausen stetig zu. Im Juli 1880 verließ Stockhausen nach vielem Hin und Her das Hoch’sche Conservatorium und gründete eine konkurrierende Gesangsschule. Dieser Konflikt verpasste Raffs Stellung gegenüber dem Kuratorium einen empfindlichen Schlag. Wie Helene Raff berichtet, überschatteten dieser Streit und die zunehmenden gesundheitlichen Probleme die letzten Lebensjahre ihres Vaters. Inmitten der Prüfungsphase des Jahres 1882 verstarb Raff an einem Herzinfarkt. Sein Nachfolger wurde Bernhard →Scholz.
Aus Protest gegen die Umstrukturierungen und die bald in die Wege geleitete Wiedereinstellung Stockhausens gründeten Schwarz, Roth, Kunkel und Fleisch aus Loyalität zu Raff mit dem Raff-Conservatorium ein konkurrierendes Institut, das bis 1923 Bestand hatte. Hans von Bülow griff diesem durch regelmässige Sommerkurse unter die Arme und leitete die Errichtung eines Denkmals für Raff auf dem Frankfurter Friedhof in die Wege, das jedoch erst 1903, viele Jahre nach dessen Tod, verwirklicht werden konnte.
Werke — s. Albert Schäfer, Chronologisch-systematisches Verzeichnis der Werke Joachim Raff’s, Wiesbaden 1888 (Nachdruck der Originalausgabe: Tutzing 1974), sowie Mark Thomas, Die Musik Joachim Raffs. Ein illustriertes Werkverzeichnis, Stuttgart 2022. In der überaus produktiven „mittelrheinischen Phase“ verfasste Raff elf Sinfonien, vier Opern, sieben konzertante Werke, mehrere Ouvertüren, sechs Streichquartette, ein Streichoktett, ein Streichsextett, ein Klavierquintett, zwei Klavierquartette, vier Klaviertrios, vier Violinsonaten, eine Cellosonate, das Oratorium Welt-Ende – Gericht – Neue Welt op. 212, mehrere Chor- und Liederhefte sowie eine große Anzahl an Klavierwerken aller Art. Die Manuskripte eines großen Teils der gedruckten Werke sind verschollen. Neueditionen erscheinen vorwiegend bei Nordstern (Gesamtausgabe) sowie Breitkopf & Härtel (Urtext-Ausgaben in Zusammenarbeit mit dem Joachim-Raff-Archiv). Raff verfasste neben der kontrovers aufgenommenen Schrift Die Wagnerfrage (1854) etliche Texte für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Ein Schriftenverzeichnis ist in Vorbereitung.
Quellen und Referenzwerke — s. Briefverzeichnis des Joachim-Raff-Archivs, das Ende 2019 aufgeschaltet wurde (ca. 3000 Einträge, online). Raffs nachgelassene Korrespondenz („Raffiana“) liegt in D-Mbs und umfasst ca. 2000 Briefe von und an Raff, darunter die umfassende Korrespondenz von Raff mit seiner Frau. Die nachgelassenen Manuskripte und zahlreiche Briefe liegen in D-B. Wichtige Bestände auch in CH-LSZjra, CH-W, D-Dl, D-F, D-MZsa, D-OF, D-WRgs, D-Wll, D-Zsch (s. Kalliope) <> Clara Schumann im Briefwechsel mit Joachim und Doris Raff 1878 bis 1882, hrsg. von Annegret Rosenmüller, in: Schumann Briefedition Serie II, Bd. 16,2, Köln 2020, S. 589–898 <> Simon Kannenberg, Joachim Raff und Hans von Bülow. Porträt einer Musikerfreundschaft. Briefedition, 2 Bde., Würzburg 2020 (Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert 18)
Literatur — Helene Raff, Joachim Raff. Ein Lebensbild, Regensburg 1925 (Deutsche Musikbücherei 42) <> Cahn 1979 <> Rainer Bayreuther, Art. Raff, (Joseph) Joachim in MGG2P (dort weitere Literaturangaben) <> Peter A. Brown, The Symphonic Repertoire, Bd. 3, Teil A: The European Symphony from ca. 1800 to ca. 1930. Germany and the Nordic Countries, Bloomington/Indianapolis 2007 <> Christoph Hust, „Fettaugen auf einer Wassersuppe“. Wagners Lohengrin, Raffs Die Wagnerfrage und das Problem der „romanischen Kultur“, in MusikTheorie 28 (2013), Heft 2, S. 99–110 <> Res Marty, Joachim Raff. Leben und Werk, Altendorf 2014 <> Simon Kannenberg, Art. Joachim Raff, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hrsg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. (digital, Stand 12. Aug. 2019) <> Severin Kolb, Zur Gründung eines Joachim-Raff-Archivs in Lachen/CH, in: Die Tonkunst 11 (2017), S. 214–216 <> Severin Kolb, Vom „desperaten Christen“ zum „Welt-Ende“-Verkünder. Joachim Raffs geistliches Schaffen, in: musik & liturgie 142 (2017), Heft 4, S. 18–20. <> Res Marty, „Raff-Renaissance“ in der March. 45 Jahre Joachim-Raff-Gesellschaft (1972–2017), in: Joachim Raff. Von der March in die Welt – und zurück, hrsg. von Severin Kolb, Lachen 2018, S. 15–38 (Marchring-Heft 61) <> Severin Kolb, Auf den Spuren eines „denkenden Musikers“. Ein Joachim-Raff-Archiv für Lachen, ebd., S. 41–59 <> Walter Labhart, Raff als Anreger von Tschaikowsky, Mahler und Debussy, ebd., S. 63–76 <> Rainer Bayreuther, Joachim Raffs „König Alfred“ und die nationale Bewegung in Deutschland, ebd., S. 77–89 <> Hans-Joachim Hinrichsen, Hans von Bülow und Joachim Raff. Die Geschichte einer Freundschaft, ebd., S. 91–108 <> Simon Kannenberg, Joachim Raff und das Wiesbadener Musikleben, in: Nassauische Annalen 130 (2019), S. 239–254 <> Dominik von Roth / Ulrike Roesler, Die neudeutsche Schule. Phänomen und Geschichte. Quellen und Kommentare zu einer zentralen musikästhetischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts, 3 Bde., Stuttgart 2020 <> Babbe 2021 <> Axel Beer, Joachim Raff als Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung, in: Die Tonkunst 16 (2022), S. 143–146
Abbildung 1: Joachim Raff, Stich nach einer Fotografie, Leipzig: Dürr’sche Buchhandlung (Joachim-Raff-Gesellschaft Lachen)
Abbildung 2: Suite (Orch.) op. 101 (komponiert 1863 in Wiesbaden), Mainz: Schott [1864]; CH-LSZjra
Abbildung 3: Grabstein Raffs auf dem Frankfurter Hauptfriedhof (Gewann D 298) aufgenommen von Kristina Krämer im August 2018
Severin Kolb