Carl Schuricht
SCHURICHT, CARL (ADOLF) * Danzig 3. Juli 1880 | † Corseaux bei Vevey (Kanton Waadt, Schweiz) 7. Jan. 1967; Dirigent und Komponist
Schurichts Mutter Amanda (Ludovika Alwine) geb. Wusinowski (* Conitz (Chojnice, Polen) 11. Dez. 1847 | † Wiesbaden 8. März 1935) lebte nach dem frühen, rund vier Wochen vor der Geburt des Sohns erfolgten Unfalltod ihres Mannes Carl Conrad (* Danzig 27. Jan. 1856 | † (ertrunken in der Danziger Bucht) 9. Juni 1880), der einer seit mehreren Generationen in Danzig tätigen Orgelbauerfamilie angehörte, noch bis Ende der 1880er Jahre in der Stadt. Ob man sie als Opern- bzw. Oratorien-Sängerin, zudem als Pianistin (so in etlichen Nachschlagewerken, oft verknüpft mit dem Epitheton „well known“ und alles ohne Quellenangaben) zu bezeichnen hat, sei hier nicht entschieden – jedenfalls war die Lebensrealität, die den jungen Carl umgab, wohl eine andere: Amanda Schuricht arbeitete den Danziger Adressbüchern zufolge seit 1885 im Handschuhgeschäft ihres Schwagers, konnte aber gleichwohl ihrem Sohn frühzeitig eine musikalische Ausbildung zukommen lassen – seit seinem 6. Lebensjahr erhielt er Klavier- und seit dem 11. Violinunterricht. Über Berlin, wo anscheinend Verwandtschaft lebte, kamen Amanda und Carl Schuricht, wobei die Gründe im Dunkeln liegen, nach Wiesbaden – die ersten Einträge im Adressbuch (1892/93, 1893/94) bezeichnen sie als Masseurin. Carl besuchte das königliche Gymnasium, und sein sich offenbar entschieden zeigendes musikalisches Talent (auch in Form erster Kompositionen) erfuhr Förderung u. a. durch Franz Mannstaedt und Edmund Uhl. Nachdem Schuricht am Mainzer Stadttheater in der Saison 1901/02 als Korrepetitor und Kapellmeister-Volontär gearbeitet hatte, versuchte er, sich in Wiesbaden mit Klavier und Theorie-Unterricht ein Einkommen zu sichern, konnte aber alsbald seine musikalische Ausbildung an der Berliner Hochschule (u. a. bei Ernst Rudorff und Heinrich van Eycken) fortsetzen, wobei er in dem Bankier Franz von Mendelssohn (1862–1935; ihm sind die Praeludien op. 4 gewidmet) einen Gönner fand, dessen Stiftung ein Stipendium gewährte und der zweifellos auch die Voraussetzungen für die Publikation der frühen Werke in Berlin schuf. Dass Schuricht 1903 auch Schüler Max Regers in Leipzig war, ist sehr wahrscheinlich. 1904 kehrte er nach Wiesbaden zurück und konnte sich, vor allem aufgrund der geradezu begeisterten Rezensionen aus den Federn von Otto Dorn und Hans Georg Gerhard als „Wiesbadener Komponist“ (Wiesbadener General-Anzeiger 10. Jan. 1905) in der Öffentlichkeit einen Namen machen – seine im Januar 1905 von der Kurkapelle unter Louis Lüstner erstmals aufgeführten Herbststücke finden sich in den Programmen noch bis 1914 regelmäßig wieder. Im Sommer 1906 dirigierte Schuricht vertretungsweise die Abonnementskonzerte des Philharmonischen Vereins in Dortmund, was ihm die Möglichkeit gab, weitere eigene Orchesterwerke zu präsentieren. Vor seiner Rückkehr nach Wiesbaden nahm er die Gelegenheit wahr, im Oktober 1906 in seiner Heimatstadt Danzig mehrere Sinfoniekonzerte (wiederum mit einer eigenen Komposition) zu leiten, und setzte im Sommer des folgenden Jahrs seine Dirigententätigkeit im Wechsel mit Kurkapellmeister Heinrich Sauer in (Bad) Kreuznach fort. Währenddessen erreichte ihn ein Ruf an das Stadttheater in Zwickau, wo er die Funktion des Kapellmeisters in der Saison 1907/08 innehatte; im März 1908 war er allerdings bereits Dirigent des ambitionierten Musikalischen Vereins in Goslar, eine Aufgabe, die er bis Mitte 1909 wahrnahm und bei der ihn nicht nur der Wiesbadener Organist Friedrich Petersen gastweise unterstützte, sondern auch seine Ehefrau, die Musiklehrerin Friederike Auguste Hermine (gen. „Friedel“) geb. Heinemann (* Hadamar 21. Jan. 1883; Eheschließung Wiesbaden 11. Juli 1908; Scheidung ebd. 1922), die bei der Aufführung älterer Werke den Cembalo-Part übernahm. Schurichts inzwischen überregionales Renommee als Chor- und Orchesterdirigent führte dazu, dass er sich im Mai 1909 bei der Wahl des Nachfolgers von Siegfried Ochs als Leiter des Rühlschen Gesangvereins in Frankfurt gegen 139 Mitbewerber – offenbar mühelos – durchsetzen konnte; er blieb in dieser Position (zuletzt oft vertreten von Waldemar von Baußnern) bis 1918 und war 1910 bis 1912 auch als Lehrer für Chorgesang am Hoch’schen Konservatorium tätig. Mitte des Jahres 1910 schlug er die ihm angetragene Nachfolge Emil Steinbachs als Städtischer Kapellmeister im Mainz „wegen Zeitmangels“ (Wiesbadener Tagblatt 19. Juli 1910), in Wahrheit aber wohl wegen gegen ihn gerichteter Intrigen (ebd. 4. Juli 1910), aus. Ungeachtet dessen trat Schuricht, der in den Monaten Oktober 1911 bis Januar 1912 bereits als Gastdirigent des Wiesbadener Kurorchesters aufgetreten war, im Februar des Jahres an die Stelle des unrühmlich abgegangenen Kapellmeisters Ugo Afferni und agierte „mit jugendlichem Feuereifer“ (Otto Dorn in: Signale für die musikalische Welt 29. Jan. 1913). Bereits seit Januar hatte sich Schuricht außerdem mit Vorträgen über Musik in der Höheren Mädchenschule dem interessierten Publikum zugewandt, wobei er „ganz frei und wie aus momentaner Eingebung sprach“, Erläuterungen am Klavier gab und bisweilen von einem „kleinen Extrachor“ seines Rühlschen Gesangvereins unterstützt wurde (Wiesbadener Tagblatt 20. Jan. 1912). 1913 übernahm er außerdem die Leitung des Wiesbadener Cäcilienvereins, die er bis 1937 innehatte, und setzte seine Vortragstätigkeit bei unterschiedlichen Anlässen noch über längere Zeit fort.
Dass man Carl Schuricht während der frühen (Wiesbadener) Jahre in erster Linie als (überdurchschnittlich begabten) Komponist wahrnahm, entspricht ganz seinen damaligen Ambitionen, die sich alsbald entschieden wandelten, was zu ihrer vollständigen Marginalisierung durch die Mit- und Nachwelt führte. Über den weiteren Lebensweg und die künstlerischen Leistungen Schurichts als Orchesterleiter, der in der Folge zahlreichen Einladungen zu Gastdirigaten (auch im Ausland) folgte, 1922 zum Generalmusikdirektor ernannt wurde, seit 1933 (zusätzlich zu den Aufgaben in Wiesbaden) den bis dahin von Otto Klemperer (dieser hatte als Jude aus Deutschland fliehen müssen) geleiteten Philharmonischen Chor in Berlin dirigierte, 1944 in die Schweiz übersiedelte und 1953 zum Ehrenbürger der Stadt Wiesbaden, wo seit 1973 eine Carl-Schuricht-Straße an ihn erinnert, ernannt wurde, sind wir durch die gängigen Lexika wie auch monographische Darstellungen umfänglich informiert, so dass wir an dieser Stelle bewusst vermeiden, Eulen nach Athen zu tragen. Erwähnt sei noch, dass Schuricht 1922 (nur wenige Wochen nach der Scheidung von seiner ersten Frau Friederike) in Wiesbaden ein zweites Mal heiratete, nämlich die 1902 in Padang auf Sumatra (Indonesien) geborene Cato Luise geb. Holle; 1926 wurde auch diese Ehe geschieden. Friederike Schuricht war seit 1925 mit Hans (Edgar) →Weisbach verheiratet, der ihren ersten Gatten vielfach am Dirigentenpult des Kurorchesters vertreten hatte und gemeinsam mit ihm bei Kammerkonzerten als Klavierduo aufgetreten war. 1944 schloss Carl Schuricht die Ehe mit Martha geb. Banz aus Zürich (1916–2011); beider Urnen sind auf dem Wiesbadener Nordfriedhof beigesetzt.
Werke — Lied Erinnerung („Einst, o wie war es herrlich doch“), Wiesbaden: Schellenberg [1900] <> Sonate (Kl.) op. 1, Berlin: Drei Lilien [1906]; D-B, D-Mbs, D-MZu (HfM), GB-Lbl <> Drei Herbst-Stücke (Kl.-Übertragung einer nicht überlieferten Orch.-Fassung; Vom Hochland, Herbstfreude, Herbstlied) op. 2, ebd. [1906]; D-B, D-WIl (s. Abb. 3) – UA der Orch.-Fassung Wiesbaden 8. Jan. 1905 unter Louis Lüstner <> Fünf Lieder (Sst., Kl.; „Kommst du denn nicht, Sonne“, Gebet, Am Torweg, „Wo du hingehst“, „Hätt’ ich ein Haus in Tannenruh’“) op. 3, ebd. [1906]; D-B, D-WIl <> Drei Praeludien (Kl.; gewidmet Franz von Mendelssohn) op. 4, ebd. [1906]; D-B, D-WIl <> unveröffentlicht und verschollen (sämtlich aufgef. im Juli 1906 in Dortmund): Thüringer Wald, Ouvertüre (Orch.) <> Nordische Fantasie (Orch.) <> Vorspiel zu Ofterdingen (Novalis?)
Quellen — Standesamtsregister Danzig und Wiesbaden <> Adressbücher Berlin, Danzig, Wiesbaden <> Briefe Schurichts s. Kalliope <> Tony Canstatt, Karl Schuricht, in: Neue Musik-Zeitung Nr. 12 (21. März) 1912, S. 257–258 <> Wiesbadener Tagblatt 12. Dez. 1901 (Abendausg.), 13. Dez. 1901 (dto.), 24. Apr. 1902 (Morgenausg.), 12. Mai 1902 (Abendausg.), 9. Jan. 1905 (dto.; Rezension der UA der Herbststücke durch Otto Dorn, mit biogr. Angaben), 31. März 1906 (2. Abendausg.; Rezension der opp. 1–4 durch Otto Dorn), 10. Aug. 1906 (Abendausg.), 26. Okt. 1906 (dto.), 30. Jan. 1907 (Morgenausg.), 6. Febr. 1907 (dto.), 18. Sept. 1907 (Abendausg.), 23. März 1908 (Morgenausg.), 4. Nov. 1908 (dto.), 4. März 1909 (Abendausg.), 28. Mai 1909 (dto.), 7. Juli 1909 (Morgenausg.), 19. Juli 1910 (Abendausg.), 4. Juli 1910 (dto.), 21. Okt. 1911 (dto.), 25. Okt. 1910 (Morgenausg.), 24. Dez. 1911 (dto.), 3. Jan. 1912 (Abendausg.), 10. Febr. 1912 (dto.), 20. Febr. 1912 (dto.), 22. Febr. 1912 (dto.) und passim; Wiesbadener Bade-Blatt 7. Jan. 1905, 8./9. Nov. 1914 und passim; Wiesbadener General-Anzeiger 10. Jan. 1905 (Rezension der zuvor aufgeführten Herbst-Stücke von Hans Georg Gerhard), 13. Apr. 1906 (2. Beilage; Rezension der opp. 1–4 von Hans Georg Gerhard), 30. Aug. 1906, 6. Febr. 1907, 28. Mai 1909, 20. Juli 1910, 30. März 1911, 20. Okt. 1910, 11. Nov. 1911, 2. Dez. 1911, 4. März 1912 und passim; Kölnische Zeitung 6. Febr. 1905; Dortmunder Zeitung 13. Juli 1906, 14. Juli 1906; General-Anzeiger (Dortmund) 1. Sept. 1906; Frankfurter Sänger-Zeitung 1. Sept. 1909, 1. Dez. 1909, 1. Mai 1914; Frankfurter Zeitung und Handelsblatt 7. Juli 1910 (3. Morgenblatt), 19. Juli 1910 (Abendblatt), 29. Okt. 1911 (2. Morgenblatt), 23. Jan. 1916 (3. Morgenblatt), 6. Mai 1917 (2. Morgenblatt), 25. Jan. 1918 (2. Morgenblatt) und passim; Musikalisches Wochenblatt 7. Juli 1910, 4. Aug. 1910 und passim; NZfM 21. Nov. 1912 und passim; Signale für die musikalische Welt 29. Jan. 1913 und passim; Wiesbadener Bade-Blatt 2. März 1922 und passim <> MMB
Literatur (Auswahl) — RiemannL 1922 <> MüllerDML <> Ernst Laaff, Carl Schuricht, Wiesbaden 1967 <> Cahn 1979 <> Tobias Picard, Art. Schuricht, Carl, in: Frankfurter Personenlexikon (online) <> Wolfgang Jung, Art. Schuricht, Carl, in: Stadtlexikon Wiesbaden (online) <> NassB (dort weitere Literaturangaben) <> Ulf Scharlau, Art. Schuricht, Carl in MGG2P (dort weitere Literaturangaben) <> NDB <> Carl Schuricht-Homepage (online)
Abbildung 1: Carl Schuricht nach einer Fotographie; Neue Musik-Zeitung Nr. 12 (21. März) 1912, S. 258
Abbildung 2: Anzeige Schurichts im Wiesbadener Tagblatt 24. Apr. 1902
Abbildung 3: Titelseite von Schurichts Herbst-Stücken op. 2; D-WIl
Abbildung 4: Ankündigung eines Vortrags im Saal des Frankfurter Saalbaus; Frankfurter Zeitung und Handelsblatt 23. Jan. 1916
Abbildung 5: Empfehlungsschreiben Schurichts für Werner Wemheuer (1942); Privatbesitz
Axel Beer