erlanger


Die beiden hier relevanten Zweige der Familie Erlanger unterscheiden sich hinsichtlich der sozialen Stellung und Berufswahl: Während Max (1) als jüngster Sohn des aus Heddernheim stammenden jüdischen Wechselmaklers Löb Moses (Ludwig Moritz) Erlanger und seiner Frau Jette (Henriette) geb. Beer seine musikalische Begabung professionalisierte, stieg sein älterer Bruder Raphael (1806–1878) in das aufblühende väterliche Geschäft in Frankfurt ein und gründete 1848 dort das alsbald berühmte Bankhaus – der Erfolg des Unternehmens brachte ihm 1860 die Erhebung in den erblichen Adelsstand und 1871 in den Freiherrenstand ein. Er und seine Nachkommen (3)–(10) nannten sich entsprechend „von Erlanger“ bzw. „d’Erlanger“. Emil (3), der älteste Sohn aus erster Ehe mit Helene Albert (1800–1835), sowie die Söhne Ludwig (4) und Viktor (5) aus zweiter Ehe mit Ida Albert (1809–1889, jüngere Schwester Helenes) pflegten ihre offenbar angeborene und von der kunstsinnigen Familie „standesgemäß“ geförderte Musikalität als Steckenpferd und gaben sie an die nächste Generation weiter. Im unserem Zusammenhang mag es genügen, ohne präzises Eingehen auf den beruflichen Werdegang lediglich die verwandtschaftliche Zugehörigkeit der Familienmitglieder aufzuzeigen sowie (wenn auch in manchen Fällen vorläufig nur in Ansätzen) die jeweilige musikalisch-kompositorische Aktivität zu dokumentieren.

(1) Max * Wetzlar 14. Mai 1813 (nicht 1812) | † Moskau (?) 24. März 1873; Violinist, Kapellmeister, Komponist

(2) Gustav * Halle/Saale 19. Jan. 1842 | † Frankfurt/M. 22. (nicht 23.) Juni 1908; Sohn von (1), Musikschriftsteller und Komponist

(3) (Friedrich) Emil * Frankfurt/M. 18. (nicht 19.) Juni 1832 | † Versailles 22. Mai 1911; Neffe von (1), Cousin von (2) und Halbbruder von (4) und (5), Bankier

(4) Ludwig (Gottlieb Friedrich) * Frankfurt/M. 8. Sept. 1836 | † ebd. 16. Febr. 1898; Halbbruder von (3) und Bruder von (5), Bankier

(5) Viktor (Alexander) * Frankfurt/M. 10. Juni 1840 | † Genf 9. Sept. 1894; Halbbruder von (3) und Bruder von (4), Bankier

(6) Frédéric (Alfred) * Paris 29. Mai 1868 | † London 23. Apr. 1943; Sohn von (3) und Bruder von (7), Bankier und Komponist

(7) (François) Rodolphe * Boulogne-sur-Seine 7. Juni 1872 | † Sidi Bou Saïd (Tunesien) 29. Okt. 1932; Sohn von (3) und Bruder von (6), Musikschriftsteller und Maler

(8) Ludwig * London 5. März 1862 | † Wien 5. Mai 1923; Sohn von (5) und Bruder von (9), Rittmeister und Komponist

(9) Victor (Raphael Matteo) * London 14. Mai 1867 | † Wien 25. Sept. 1907; Sohn von (5) und Bruder von (8), Offizier, Rennstallbesitzer, Lebemann und Komponist

(10) Espérance (Paula Victoria Raphaela) * London 5. Okt. 1870 | † Nieder-Ingelheim 7. Mai 1944; Tochter von (4), Komponistin


(1)


Max Erlanger war Schüler von Carl Guhr in Frankfurt, wo er schon 1829 öffentlich auftrat, und 1831 von Joseph Mayseder und Ignaz von Seyfried in Wien. In Begleitung anderer Musiker aus Frankfurt begab er sich auf eine Konzertreise, die ihn 1834 zunächst nach Holland führte; in Amsterdam musizierte er gemeinsam mit der Pianistin Clasine Josephine van Brussel (* Amsterdam 1. Febr. 1808 | † Moskau 31. Okt. 1858), die im September 1834 seine Frau wurde. 1836 reiste das Paar weiter nach England, trat 1838 in Berlin auf und 1840/41 in Prag und Wien. Eine Verpflichtung als Musikdirektor band Erlanger von Ende 1841 bis 1842 an Halle an der Saale, dann, nach einem Auftritt in Görlitz, kurzzeitig an Frankfurt an der Oder (1844). Von dort aus reisten die Erlangers nach Riga, wo Max 1845–1846 als Musikdirektor und Erster Geiger am Stadttheater engagiert war. Anschließend, nachdem sein Plan, die Direktion des Theaters in Reval zu übernehmen, sich zerschlagen hatte, ließ sich die Familie 1847 in Moskau nieder; neben seiner Tätigkeit als Kapellmeister am Kaiserlichen Theater (bis ca. 1866) betrieb Erlanger hier seit 1858 die Musikalienhandlung (mit Musikverlag) Lyra (Max Erlanger); das Unternehmen ging zu einem bisher nicht ermittelten Zeitpunkt an seinen Sohn Anton über, der es nach dem Tod des Vaters an den Verleger Peter Jurgenson verkaufte.

Werke — Die meisten der in den Quellen genannten Kompositionen (Bühnenmusik, eine Ouverture, Tänze) erschienen in seinem Moskauer Verlag bzw. blieben ungedruckt und sind verschollen; überliefert ist das Lied De algemeene Bededag in Nederlanden (Sst., Kl.), Frankfurt: Fischer [1834]; A-Wn <> In Riga führte Erlanger seinen Eisenbahn-Actien-Schwindel-Galopp auf (s. Rigasche Zeitung 2. Apr. 1845, mit Inhaltsangabe), der als sein op. 6 1844 bei Horwitzky in Frankfurt/Oder erschienen war. Seit etwa 1870 redigierte er in Moskau das Musikblatt Mузыкальный вестник (Musikalny Westnik; Teile des 3. Jg., der 1872 bei Jurgenson erschien, in RUS-Mrg digital)

Quellen und Referenzwerke — KB Frankfurt (mit Abschrift des Geburtseintrags aus Wetzlar) <> Brief von Wilhelm Happ an Louis Spohr, Prag 24. Nov. 1840 (s. Spohr-Briefe) <> Didaskalia 13. März 1829, 7. Okt. 1831 („Erlanger (Schüler von Mayseder)“), 22. März 1833 und öfter; Wiener Zeitung 12. Juni 1830, 12. Okt. 1832 (Fremdenanzeigen Erlanger aus Frankfurt); Amsterdamsche Courant 28. Febr. 1834, 7. März 1834, 6. Mai 1834 (Erlanger nennt sich „Discipel van Mayseder“), 28. Sept. 1834 (Anzeige der Trauung am 24. Sept.), 12. Febr. 1836 (Abreise nach England) u. ö.; Journal de La Haye 13. Febr. 1835, 21. Febr. 1835 (betr. Frankfurter Musiker); Rigasche Zeitung 2. Apr. 1845, 1. Sept. 1845, 31. Dez. 1845, 26. Sept. 1846, 6. Dez. 1846 u. ö.; AmZ (s. Reg.) <> Geschäftsrundschreiben des Musikverlags Lyra in Moskau (1858); D-LEdbsm <> MMB <> Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 18. Sept. 1873, S. 3410 (Anzeige der Firmenübernahme durch Jurgenson) <> Mendel/Reissmann <> Rigaer Theater- und Tonkünstler-Lexikon, hrsg. von Moritz Rudolph, Riga 1890


(2)


Über die musikalische Ausbildung Gustav Erlangers – abgesehen von derjenigen bei seinen Eltern – liegen bislang keine gesicherten Nachrichten vor. Jedenfalls lebte er mit seiner Familie wenigstens noch gegen Ende der 1860er Jahre in Moskau, wie es aus einem späteren Tagebucheintrag Tschaikowskys hervorgeht, der bei seinem Besuch in Frankfurt (1889) notierte, dass Erlanger nun endlich seine seit 20 Jahren bestehenden Spielschulden beglichen hätte (s. hierzu Glaab, S. 75). Wenn Erlanger nach dem Tod seines Vaters (1873) Moskau verlassen hat, könnte er (wie ältere Lexika behaupten) in Leipzig tatsächlich Schüler Carl Reineckes gewesen sein und auch zumindest einen Abstecher zum Pariser Conservatoire unternommen haben; allerdings hielt er sich bereits 1873 in London auf, wo er mit Maria Adelheid geb. Erlanger die Ehe schloss. Andererseits mag die Veröffentlichung seines op. 2 bei Schott in Mainz (1858) als Indiz für einen früheren Deutschland- bzw. Paris-Aufenthalt gedeutet werden. Seit 1875 wurden Kompositionen von ihm in Frankfurt aufgeführt, wo er seit spätestens 1878 – den Eintragungen in den Zivilstandsakten zufolge – als „Privatier“ lebte und musikalische Beiträge für die Frankfurter Zeitung schrieb; die Sterbeurkunde weist ihm hingegen die Berufsbezeichnung „Tonkünstler“ zu.

WerkeKompositionen: 1872–1890 ließ Erlanger seine Werke (v. a. Vokalmusik) überwiegend bei Kistner in Leipzig und vereinzelt bei Jurgenson in Moskau erscheinen, seitdem (wie schon in einem früheren Fall) bei Verlagen in der Region: Nocturne-Impromptu (Kl.) op. 2, Mainz: Schott [1858]; D-B <> Lieder (Sst., Kl.) op. 43, 2 Hefte, Offenbach: André [1890]; D-B, D-Kbeer (s. Abb.) <> Sechs Lieder (Sst., Kl.) op. 45, Frankfurt/M.: Steyl & Thomas [1896]; D-B <> Sechs Lieder (Sst., Kl.) op. 46, ebd. [1896]; D-B, D-Mbs <> Sechs zweistimmige Lieder (m. Kl.) op. 47, ebd. [1896]; D-B, D-Mbs (digital) <> Drei Gesänge (Fch., Kl.) op. 48, ebd. [1898]; D-B <> Drei Klavierstücke op. 49, ebd. [1898]; D-B <> Acht Lieder (Sst., Kl.) op. 50, ebd. [1898]; D-B <> ein „Claviertrio f-Moll“ (s. Signale 14. Nov. 1900) blieb ungedruckt und ist verm. verschollen. <> Schriften: L. van Beethoven. Erste Symphonie in C-dur, Frankfurt: Bechhold [1895] (Der Musikführer Nr. 31); L. van Beethoven. Zweite Symphonie in D-dur, ebd. [1895] (Der Musikführer Nr. 24); L. van Beethoven. Achte Symphonie in F-dur, ebd. [1896] (Der Musikführer Nr. 66); Felix Mendelssohn-Bartholdy. Vierte Symphonie op. 90, ebd. [1897] (Der Musikführer Nr. 126) <> zahlreiche Beiträge zum Feuilleton der Frankfurter Zeitung seit 1878 <> Beiträge für die Neue Wiener Schachzeitung (1900)

Quellen und Referenzwerke — KB Halle, Standesamtsregister Frankfurt <> Didaskalia 19. Okt. 1875, 7. Nov. 1875 <> MMB <> Signale für die musikalische Welt 14. Nov. 1900 <> Neues Wiener Tagblatt 24. Juni 1908 (kurzer Nekrolog) <> Mendel/Reissmann; Conversations-Lexikon der Tonkunst. Herausgegeben als Belage der Neuen Musikzeitung von P. J. Tonger, Köln [ca. 1900]; RiemannL 1922

Literatur — Wolfgang Glaab, Čajkovskijs vier Tage in Frankfurt am Main. Eine Station seiner Konzertreise 1889, in: Mitteilungen der Tschaikowsky-Gesellschaft 9 (2002), S. 34–75 <> Freia Hoffmann, Art. Erlanger, Josefine, in: Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, hrsg. vom Sophie-Drinker-Institut, Hamburg 2011 (online)


(3)


Emil von Erlanger trat früh in das 1848 gegründete Frankfurter Bankhaus seines Vaters Raphael (Bruder von (1); s. o.) ein und etablierte 1859 ein eigenes Unternehmen in Paris sowie 1870 eine weitere Firma in London. In Paris zählte er zu den Förderern Richard Wagners. 1857 erhielt er die Widmung des 2. Streichquartetts von Daniel Georg Becker; Emils Bruder Wilhelm (Hermann Carl) (*Frankfurt 27. März 1835 | † Ingelheim 17. Apr. 1909) war Widmungsträger der Quatre Morceaux de Salon (Vc., Kl.) op. 35 (Offenbach: André [1862]) von Georg Goltermann.

WerkeDeux Morceaux de Salon (Vl., Kl.; Widmung an seine Nichte Marie Langenberger (1853–1876)), Offenbach: André [1871]; D-OF, D-Kbeer (s. Abb.)


(4)


Ludwig von Erlanger gründete 1866 eine Niederlassung des väterlichen Bankhauses in Wien. Nach dem Tod des Vaters (1878) übernahm er die Frankfurter Firma. 1870 schloss er mit der bis dahin als Opernsängerin tätigen Mathilde Gabriele Alexander (gen. Sessi; * Wien 23. Mai 1846 | † Nieder-Ingelheim 27. Dez. 1934) die Ehe. Er war 1860 Widmungsträger des Opus primum von Carl Friedrich Wachtmann, dessen Schüler er gewesen sein wird. 1889 erwarb er die (größtenteils ruinöse) Burg Rheingrafenstein bei Bad Münster am Stein, wo Hans →Pfitzner „in völliger Einsamkeit“ den Sommer des Jahres 1893 verbrachte und den 3. Akt seiner Oper Der arme Heinrich komponierte.

Werke — Zwischen 1886 und 1889 ließ Erlanger mehrere Liederhefte bei Gutmann in Wien erscheinen (s. MMB).


(5)


Viktor von Erlanger, der nach seiner Ausbildung in Frankfurt zunächst in der Londoner Firma seines Halbbruders Emil (3) tätig war, folgte 1878 seinem Bruder Ludwig (4) als Leiter der Wiener Niederlassung des Bankhauses Erlanger nach. 1860 war Erlanger Widmungsträger einer Liedersammlung von Robert Leser, zu der er einen Text beisteuerte.

WerkeRomanze (Vl., Kl.), Wien: Gutmann [1880]; A-Wn <> nach seinem Tod unter dem Namen Viktor (Victor) von Erlanger erschienene Werke sind wohl seinem Sohn (9) zuzuschreiben (s. d.).


(6)


Neben seiner Tätigkeit als Bankier in Paris und London widmete sich Frédéric von Erlanger, der in Paris Schüler von Anselm Ehmant war, mit besonderer Intensität seinen musikalischen Neigungen.

Werke (teils unter dem Pseudonym „F. Regnal“) — Opern (s. StiegerO), eine Messa da Requiem (Mainz: Schott [1931]), Orchester-, Kammer- und Klaviermusik (s. MMB und RiemannL)


(7)


Rodolphe von Erlanger studierte in Paris Malerei und ließ sich, wohl aus gesundheitlichen Gründen, 1910 in Tunesien nieder. Hier wandte er sich insbesondere der Erforschung arabischer Musik zu, deren Ergebnisse er in einem grundlegenden, sechsbändigen Werk La musique arabe (Paris 1930–1959) niederlegte.

Literatur — Gabriele Braune, Art. Erlanger, François Rodolphe Baron d’, in: MGG2P (darin Werkverzeichnis und weitere Literaturangaben)


(8)


Ludwig von Erlanger machte als Rittmeister eine Militärkarriere im österreichischen Landwehr-Ulanenregiment Nr. 1; daneben war er „eine allgemein bekannte und beliebte Persönlichkeit der Wiener Gesellschaft und Sportwelt und hat, vielseitig talentiert, besonders auf musikalischem Gebiete bedeutende Erfolge errungen“ (Nekrolog).

Werke (unter dem Pseudonym „R. Langer“) — Ballett Der Teufel im Pensionat (Wien 23. Febr. 1894 unter Wilhelm Jahn) <> Oper Ritter Olaf (Prag 27. Jan 1904) <> Lieder und Walzer (lt. Nekrolog)

Quellen und Referenzwerke — Nekrolog in: Neue Freie Presse (Wien) 6. Mai 1923 <> Frank/Altmann 1927; RiemannL; StiegerO


(9)


Victor von Erlanger, Wiener Rennstallbesitzer und wie sein Bruder Offizier, „in früheren Jahren ein stadtbekannter eleganter Lebemann und ständiger Gast in den vornehmsten Wiener Klubs“, erkrankte nach dem Tod seiner vermögenden Gattin (1902) durch die Einnahme von „nervenbetäubenden Mitteln“ (Nekrolog) schwer und verbrachte seine letzten Tage in einer Heilsanstalt.

Werke — Operette Das Paradies und die Frauen (Wien 30. Jan. 1901) <> vermutlich ihm (nicht seinem gleichnamigen Vater) zuzuschreiben: Fin de Siècle. Valse (Kl.) sowie Vier Lieder (Sst., Kl.), beide Wien: Berté [1895 bzw. 1899]

Quellen und Referenzwerke — Nekrolog in: Neue Freie Presse (Wien) 26. Sept. 1907 <> Sport und Salon (Wien) 31. Jan. 1901; Neues Wiener Tagblatt 26. Sept. 1907; Die Zeit (Wien) 26. Sept. 1907 <> StiegerO


(10)


Espérance von Erlanger betätigte sich insbesondere bis zu ihrer Eheschließung mit Fürst Alexander von Solms-Braunfels (Frankfurt 19. Jan. 1891), aber auch darüber hinaus in Wien als Komponistin mehrerer Walzer und Klavierlieder, die sie (u. a. mit Widmungen an ihre Mutter und ihren Bräutigam) bei Robitschek in Wien erscheinen ließ (vorhanden in A-Wn).


Literatur (zu (3)–(10)) — Gabriele Mendelssohn, Die Familie Erlanger. Bankiers – Mäzene – Künstler, Ingelheim 2005

Abbildung 1: Gustav Erlanger, Fotografie von M. Scherer (Digitalisat aus D-F, Porträtsammlung Manskopf)

Abbildung 2: Titelseite von Gustav Erlangers Liedern op. 43; D-Kbeer

Abbildung 3: Titelseite der Deux Morceaux de Salon von Emil von Erlanger; D-Kbeer


Axel Beer

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  • angelegt 2019/07/18 21:01