Friedrich Eugen Thurner
THURNER, FRIEDRICH EUGEN (Eugène) * Mömpelgard (Montbéliard) 9. Dez. 1785 | † Amsterdam 21. März 1827; Oboist, Komponist
Friedrich Eugen Thurner war der ältere von zwei Söhnen des Flötenvirtuosen Anton Thurner (dessen Bruder Franz war ebenfalls Flötist) und seiner Ehefrau Christine, geb. Bissdorf. Da die Eltern früh starben (1790), wuchsen die Brüder bei einem Onkel in Kassel auf. Dort erhielt Eugen Klavier- und Generalbassunterricht beim Hoforganisten Johann Conrad Herstell (1764–1836); er trat mit gerade einmal acht Jahren mit Klavierkonzerten von Mozart auf. Es folgten bald Flöten- und schließlich auch – auf eigenen Wunsch – Oboenunterricht, letzterer beim Hofoboisten Johann Friedrich Knauf.
Die Kaiserin von Russland, Tochter des verstorbenen Herzogs von Württemberg, finanzierte Thurner weiterführende Studien in München, wo er bei einem entfernten Verwandten, dem Ballettmeister und Tänzer Peter Crux (um 1750–1823) unterkam. Dort unterrichteten ihn ab 1801 Franz Danzi und der Oboist Friedrich Ramm (1744–1813). Nach dreijährigem Aufenthalt weilte Thurner kurz in Wien. Anschließend ersuchte er um Anstellung in St. Petersburg, was ihm aber versagt blieb. Er ging daraufhin nach Offenbach, wo er einige Zeit bei Peter Bernard lebte und in dessen Freiluftkonzerten mitwirkte. 1805 folgte Thurner einem Ruf an den Hof des Herzogs von Braunschweig; er war in der Hofkapelle als erster Oboist tätig. Hier lernte er Louis Spohr kennen. Nach Übernahme der Kapelle durch den Hofstaat König Jérômes von Westfalen wirkte Thurner dann ab 1807 als Königl. Westphäl. Kammer-Musikus (gemeinsam mit seinem Lehrer Knauf; vgl. AmZ 1. Febr. 1809, Sp. 277) bis zur Auflösung der Hofkapelle in Kassel. Zwischen 1808 und 1814 (Abschied am 31. Jan.) trat er dort einige Male auf, gelegentlich auch als Pianist.
Nach Gastspielen in Dresden, Bremen (1809) und Leipzig (Neujahrstag 1810) sowie der Teilnahme am Musikfest in Frankenhausen 1811 konzertierte Thurner am 11. Dez. 1812 erstmalig in Frankfurt/M., und zwar im Saal des Roten Hauses auf der Zeil, mit „Introduction und Allegro einer neuen Symphonie“, also wohl den fertiggestellten Teilen der 3. Sinfonie, und einer für das Kasseler Hoftheater komponierten Ballet-Ouvertüre, vermutlich derjenigen zu Socrates und Alcibiades. Angeblich reiste Thurner danach „von hier [Frankfurt/M.] über Carlsruhe und Strasburg nach Paris“ (AmZ 6. Jan. 1813), bevor er am 2. Sept. 1814 ein weiteres Mal in Frankfurt/M. auftrat. Kurz darauf, am 13. Sept. 1814, also gut ein halbes Jahr nach dem Ende der Dienstzeit in Kassel, trat Thurner noch einmal an seinem ehemaligen Wirkungsort in Erscheinung, und zwar in einem Konzert der Hornisten Gebrüder Gottfried und Michael Schun(c)ke, an dem auch eine Tochter von Carl Guhr als Sängerin teilnahm. Mit dem Ende der Anstellung in Kassel zog Thurner nach Wien, wo er mehrfach Konzerte gab (1814–1816). 1814 sowie 1815 wird er genannt als „Lehrer“ bzw. „Professor der Hoboe beym k. k. Conservatorium der Musik zu Wien“ (Intelligenz-Blatt zur AmZ, Okt. 1814, Sp. 695; AmZ 23. Aug. 1815, Sp. 575, mit hinterfragendem „(!)“ hinter dem Titel; eine Einrichtung dieser Art war 1814 in Wien zwar geplant, entstand aber erst 1817/18). Von Wien aus ging der Oboist auf ausgiebige Konzertreisen im mitteleuropäischen Raum. Auftrittsorte der folgenden Jahre waren u. a. Amsterdam (1814, noch vor dem Umzug nach Wien, dann wieder 1820), Mannheim, Karlsruhe, Straßburg (jeweils 1814), Köln (1814 und 1818), Zürich, München und Augsburg (jeweils 1815), Prag, Dresden, Berlin und erneut Leipzig (jeweils 1817), Aachen (1818) und Hamm (1819). 1817 zog Thurner von Wien nach Frankfurt/M. und traf dort erneut auf Spohr, der ihm Ende des Jahres eine Anstellung am Stadttheater verschaffte (Spohr, der seinen Posten gerade erst angetreten hatte, datiert die Ankunft Thurners in seinen Lebenserinnerungen auf den Spätherbst 1818). In seinem – und Spohrs – ersten Konzert am 15. Dez. 1817, im Saal des Gasthofs Zum Weidenbusche, trug Thurner ein „Spanisches Rondo“ vor (Bayreuther Zeitung 24. Dez. 1817), also vermutlich sein Rondo-Boléros op. 38. Ein weiterer Auftritt ist belegt für den 18. Sept. 1818 (erneut im Roten Haus).
Bereits 1814 litt Thurner an ersten Anfällen von geistiger Zerrüttung, von denen er sich nicht mehr vollständig erholen konnte. Er glaubte, in Wien von einer Dame, mit der er ein Verhältnis führte, vergiftet worden zu sein (Spohr, Lebenserinnerungen, S. 54); die regelmäßige Wiederkehr dieses Gedankens trieb ihn in den Wahnsinn. Das führte 1818 zur Entlassung aus dem Frankfurter Dienst, und Thurner ging nach Holland, wo er noch einige Male konzertierte. Als sich sein Zustand weiter verschlechterte, erfolgte die Unterbringung in einem Irrenhaus in Amsterdam. In der Zeit, die er dort bis zu seinem Tod verbrachte, soll es immer wieder längere Perioden gegeben haben, in denen Thurner bei klarem Verstand war und komponiert hat (Mitteilung aus dem Irrenhaus, 26. März 1827, wiedergegeben im Nekrolog). Sein letzter bezeugter Amsterdamer Auftritt datiert vom 22. Aug. 1820, das letzte Konzert überhaupt gab er im April 1821 in München. Beerdigt wurde Thurner auf dem Leydener Kirchhof.
Zeitgenossen würdigten den Oboisten Thurner als „Meister dieses Instruments, das Wort in seinem grössten Umfang genommen.“ (Intelligenz-Blatt zur AmZ, Okt. 1814, Sp. 696). Der Klang seines Instruments soll aber mitunter sehr unangenehm gewesen sein, so dass er selbst bei den Kasseler Hofkonzerten „jedesmal in die Stürze der Hoboe Baumwolle stopfte, um das Grelle seines Tones zu mildern“ (AmZ 23. Aug. 1815, Sp. 576). Sophus Benzon widmete Thurner seine Duos concertants op. 9. – Bei dem Flötisten Thurner, der zwischen 1798 und 1800 in Konzerten von Franz Anton Hoffmeister in Erscheinung trat, handelt es sich nicht um Friedrich Eugen, sondern wohl um seinen Onkel Franz.
Werke — Thurner hat vorrangig Werke für sein Instrument hinterlassen. Laut Nekrolog hat er unterwegs viel komponiert, seine Notate aber oft ohne Abschrift vor Ort zurückgelassen. Zu nennen sind: zwei Sinfonien (München 1801/02, ungedruckt), eine dritte Sinfonie blieb unvollendet, aufgeführt wurden die Einleitung und der Allegro-Hauptsatz <> vier Oboenkonzerte: Nr. 1 op. 12, Mainz: Schott [1821] (als 1er Concerto); D-Bim (digital, s. Abb.), D-Mbs (Abschrift 1823); Nr. 2 op. 39, Leipzig: Hofmeister [1822]; D-B, D-Bim (digital), GB-Lbl; Nr. 3 op. 41 (mit „russischem Rondo“) und Nr. 4 op. 44 (laut Mendel/Reissmann gedruckt in Amsterdam) <> Sonate (Kl., Hr./Va./Vc.; „dediée à son ami Charles Feska à Vienne“) op. 29, Leipzig: Peters [1818]; D-B (hier auch das Autograph, dat. 1811 (digital)), D-BE, D-KA, D-KNh <> Ouvertüre (Orch.) op. 31, Leipzig: Hofmeister [1820]; D-B, US-PHf <> Divertissements, contenant III Thèmes variés (Ob., Vl., Va., Vc., auch für Ob., Git.) op. 32, ebd. [1818]; D-B <> Quatuor brillant (Ob./Fl., Vl., Va., Vc.) op. 33, ebd. [1818]; D-B, D-Mbs <> Scène (Ob., Orch. oder Strq.) op. 35, ebd. [1819]; A-Wn (digital), D-B, D-LEu, I-Mc <> Rondo-Boléros (Ob., Orch./Streichquartett; auch in einer Fassung für Kl.) op. 38; ebd. [1820]; D-B (digital), D-MEIr (Ms.; s. RISMonline) <> Duo nach einer Sonate (KV 374d = 376) von W. A. Mozart (2 Ob.) op. 40, Mainz: Schott [1821]; D-Dl, D-Mbs (spätere Auflage, [1883], digital, sowie Stichvorlage ca. 1820; digital) <> Sonate (Kl., Ob./Fl./Vl.) op. 45, Leipzig: Peters [1823]; D-BNbh, S-LI <> Sonate (Kl., Vl.) op. 46, Leipzig: Peters [1825] <> Sonate brillante (Kl.) op. 55, Leipzig: Probst [1823] <> Trio (Fl./Ob./Klar., 2 Hr.) op. 56, ebd. [1823] – Abschrift, 1840; PL-Wb; Titel laut Döring: Notturni <> ohne Opuszahl: Das Urtheil des Paris. Ein mythologisches Ballet, Musik nicht überliefert, Handlung von Peter Crux, Kurzbeschreibung des Inhalts: AmZ 9. Febr. 1803, Sp. 338ff.; ausführliche Inhaltsangabe (eigenständige Publikation): München: Hübschmann, 1802; D-Mbs <> Alcibiade, Divertissement in einem Akt, Handlung von Jean-Louis Aumer (1774–1833), aufgeführt 4. Sept. 1809 in Schönbrunn in Gegenwart des Kaisers Napoleon; F-Pn (handschriftliche Part.) <> Ein weiteres Ballett Socrates und Alcibiades, komponiert 1811 für den Kasseler Hof, kam nicht zur Aufführung (wegen Abgang des Ballettmeisters Aumer, vgl. AmZ 12. Juni 1811, Sp. 404); Thurner ließ die Ouvertüre separat aufführen, die übrigen Stücke fanden bei den Divertissements Zephyre und Flore, Amyon beschützt durch Neptun und anderen Unterhaltungsveranstaltungen Anwendung. <> Sechs Lieder (Sst., Kl., z. T. auch mit Git.), Bonn: Simrock [ca. 1813]; ehem. D-B, D-Dl, GB-Lam, US-NH <> Quartetto (Ob./Fl., Vl., Va., Vc) Nr. 1, Bonn: Simrock [1812]; CDN-Lu (digital), D-Dl (digital), D-Mbs (digital) <> Ein weiteres Quartett Nr. 2, genannt 1819 (Kat. Simrock 1819, HmL-Ergänzungsbd. 2), ist offenbar nicht erschienen (frdl. Auskunft von Herrn Dr. Matthias Wessel, Sept. 2024) <> Nicht näher identifizieren lässt sich: Adagio und Rondo nach einem Zigeuner-Lied, vorgetragen am 19. Dez. 1814 in Mannheim; die Variationen auf ein Tyroler-Lied, aufgeführt ebd. und in Frankfurt/M. am 21. Sept. 1814 sind offenbar Teil von op. 32 <> Döring erwähnt noch ein Flötenkonzert und ein Potpourri (Ob.).
Quellen — KB Saint-Maimboeuf Montbéliard (kath.; lückenhaft, Friedrich Eugens Taufeintrag nicht auffindbar) <> Brief an Peters, 1816; D-F; siehe Kalliope; Brief an Schott, 1822; D-Mbs (siehe Kalliope) <> Georg Döring, Nekrolog. Friedrich Eugen Thurner, in: AmZ 9. Mai 1827, Sp. 313–324 <> zu Berichten über Auftritte vgl. AmZ, Register <> weitere Berichte in (Auswahl): Casselische Polizey- und Commerzien-Zeitung, Morgenblatt für gebildete Stände, Zeitung des Großherzogthums Frankfurt, Frankfurter Ober-Postamts-Zeitung, Zeitung für die elegante Welt, Neue Zürcher Zeitung, Münchner politische Zeitung, Augsburgische Ordinari Postzeitung von Staats-, gelehrten, historisch- u. ökonomischen Neuigkeiten, Bayreuther Zeitung, Frankfurter Staats-Ristretto <> Rezension der Sonate op. 29: AmZ 1. Juli 1818, Sp. 474f. <> J[ules] Goizet, Dictionnaire universel du Théâtre en France et du théatre français à l’étranger, Paris [1867], Bd. 1, S. 60; Bd. 2, S. 115 <> E. Weingart, Catalog Nr. 157. Musicalien und Werke über Musik, Erfurt ca. 1870, S. 38 <> Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. von Folker Göthel, Bd. 2, Tutzing 1968, S. 54ff. <> Pazdírek, HmL
Literatur — GerberNTL <> Heinrich Philipp Petri, Gedächtnißschrift auf die verstorbenen Gelehrten, Staatsmänner und andere denkwürdige Personen des Jahres 1827, Berlin 1829, S. 27 <> SchillingE <> GaßnerU <> Bernsdorf <> Éd[ouard] G[eorges] J[acques] Grégoir, Biographie des Artistes-Musiciens Néerlandais des 18e & 19e siècles et des artistes étrangers résidant ou ayant résidé en Néerlande à la même époque, Anvers 1864, S. 172 <> FétisB, Bd. 8, 1867 <> Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, Wien 1869, S. 249 <> PaulH <> Mendel/Reissmann <> Riemann 31887, 51900, 71909, 111929 <> Cyclopedia of Music and Musicians, hrsg. von John Denison Champlin, Bd. 3, 1888, S. 482 <> BakerB <> Illustriertes Musik-Lexikon, hrsg. von Hermann Abert, Stuttgart 1927, S. 474 <> Frank/Altmann 131927 <> ThompsonC 101975 <> James Brown, Friedrich Eugen Thurner (1785–1827). The Triumphs and Tragedies of a Master Oboist, in: The Double Reed. Quarterly Journal of the International Double Reed Society Vol. 28, No. 4, S. 63–76 <> Hagels 2009 <> Art. Thurner, Friedrich Eugen, in: Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe (WeGA), digitale Edition (Link); Stand: 22. Okt. 2019
Abbildung 1: Konzertankündigung aus Zeitung des Großherzogthums Frankfurt 7. Dez. 1812
Abbildung 2: Titel des 1821 bei Schott in Mainz als op. 12 erschienenen Oboenkonzerts Nr. 1; D-Bim
Bernd Krause