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TANNER, (MAX) RICHARD * Neuschönefeld (heute Ortsteil von Leipzig) 20. Okt. 1878 | † Wiesbaden 24. März 1945; Musikwissenschaftler, Dirigent und Chorleiter

Richard Tanners Vater Woldemar betrieb in Neuschönefeld eine Maschinenbauanstalt und mechanische Werkstatt (W. Tanner & Co., u. a. Reparaturwerkstatt für Fahrräder); die Mutter Mathilde war eine geborene Sander. Im Alter von acht Jahren bekam Richard ersten privaten Klavierunterricht, dann auch von 1897 bis 1898 an der von Hugo Martini geleiteten „höheren“ Musikschule in Leipzig. So jedenfalls verzeichnet es das Inskriptionsverzeichnis des Leipziger Konservatoriums, in das Tanner am 8. Apr. 1899 aufgenommen wurde. Er studierte hier Komposition und Theorie (Salomon Jadassohn) sowie Klavier und Partiturspiel (Carl Reinecke), dazu zeitweise auch Violine (Robert Bolland) und Chorbegleitung (Heinrich Klesse). Die Kompositionsklasse schloss er 1901 ab, im Fach Klavier 1902; zu Ostern 1902 wurde er mit Zeugnis entlassen.

Noch im selben Jahr 1902 begann Tanner seine aktive Laufbahn als „Chorrepetitor“ am Theater in Altenburg. Es folgten Engagements als Kapellmeister in Königsberg (1904), Chemnitz (1908) und Luzern (1911), sodann in Berlin (1916 belegt in den Adressbüchern; Genaueres ist nicht bekannt), Duisburg (Spielzeit 1917/18) und Barmen (1918). 1921 kam er nach Wiesbaden, wo er als Dirigent und Chorleiter am Landestheater bis zum Ende seines Lebens aktiv war. Er war hier verantwortlich für die musikalische Gestaltung von Opern, Operetten, Balletten und Schauspielmusiken sowie die Einstudierung von Chorpartien. Bei seinem wohl ersten Auftritt leitete er die Aufführung von Lortzings Undine im Rahmen einer Festvorstellung zu Ehren des in Wiesbaden veranstalteten Deutschen Genossenschaftstages. Zugleich übernahm Tanner 1922 die Leitung des Wiesbadener Orchestervereins 03, ein „Dilettantenorchester“ – so die frühere Bezeichnung –, das sich im lockeren Verband bis dahin eher der Unterhaltungsmusik gewidmet hatte (1962 entstand daraus der Wiesbadener Orchesterverein, ab 2016 Wiesbadener Sinfonieorchester e. V.). Tanner richtete das Augenmerk schwerpunktmäßig auf klassische Werke; 1928 folgte ihm hier Oskar Brückner. Außerdem leitete er als Nachfolger von Franz Danneberg von 1922 bis 1925 den Männergesangverein Concordia, der 1926 gemeinsam mit dem Wiesbadener Männergesangverein im Wiesbadener Männer-Gesang-Verein e. V. aufging und fortan unter der Stabführung von Arthur Rother stand. Am 7. Okt. 1926 trat Tanner bei einem „Star Variety Concert“, veranstaltet von einer britischen Militäreinheit (43rd Light Infantry), im Kurhaus Langenschwalbach als begleitender Pianist auf. Zu den letzten nachweisbaren öffentlichen Auftritten zählt die Aufführung von Goethes Egmont mit der Musik Beethovens im Rahmen der Rhein-Mainischen Theatertage am 4. Juni 1944 in Wiesbaden.

1939 äußerte sich Tanner, über dessen politisch-ideologische Orientierung ansonsten nichts bekannt ist, in der ZfM kritisch über die zeitgenössische Praxis der Bearbeitung von Operetten, seiner Meinung nach ein „schamlose[s] Verbrechen an deutschen Kulturwerten, das nur geschäftlichen Interessen, wenn nicht jüdisch orientiertem Zersetzungswillen entspringt.“ Die Ausführungen knüpfen an einen kurz zuvor von Paul Ehlers (1871–1941) veröffentlichten Beitrag über den angeblichen jüdischen Einfluss auf die „deutsche“ Musik an (Die Musik und Adolf Hitler, in: ZfM Apr. 1939, S. 356–362), in dem eher beiläufig auch die als „deutsch und echt“ bewertete Musik der Operetten von Johann Strauß erwähnt wird. Seine hier noch theoretisch formulierte Kritik an den „bis zur Unkenntlichkeit“ veränderten Libretti setzte Tanner 1942 in die Praxis um, und zwar in seiner „Neubearbeitung“ des Textes zur Operette Indigo und die 40 Räuber von Johann Strauß. Im Grunde war dies die Wiederherstellung des Originals von 1871, nachdem dessen Musik 1906 von Ernst Reiterer mit gänzlich neuem Text versehen worden war und den neuen Titel Tausendundeine Nacht erhalten hatte. Tanner unterlegte wieder die ursprünglichen Worte – „sauber überarbeitet und sprachlich und handlungsmäßig so geglättet“, so dass „die köstlichen Musiknummern sich leicht und organisch anschließen“ (Reichert in Der Mittag 11. Jan. 1943).

Tanner ist laut Sterbeurkunde „im Deutschen Theater durch Feindbeschuß gefallen“. – Die Sängerin Alice Tanner-Wünsch, die ab 1920 in Kassel engagiert war und gelegentlich als Gast in Wiesbaden auftrat, steht in keinem direkten verwandtschaftlichen Verhältnis zu Richard Tanner.

WerkeKompositionen: Variationen (Vl., Va., Vc.), aufgef. Leipzig 29. März 1901 als Prüfungsarbeit (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 31. März 1901, 8. Beilage), ungedruckt <> weitere Kompositionen sind nicht bekannt. <> Bearbeitung: Neufassung des Textes (d. h. Anpassung an die originale Musik) von Johann Strauß, Indigo und die 40 Räuber, aufgef. Wiesbaden 31. Dez. 1942 unter Leitung Tanners (Berichte von Heinrich Reichert, Indigo, in: Wiesbadener Tagblatt 2./3. Jan. 1943, Der Mittag 11. Jan. 1943) <> Schriften: Johann David Heinichen als dramatischer Komponist. Ein Beitrag zur Geschichte der Oper, Diss. Univ. Leipzig, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1916; D-B, D-Mbs (digital) <> Wiederhall [!] auf den Aufsatz von Paul Ehlers „Die Musik und Adolf Hitler“ im Aprilheft der ZFM (offener Brief an den Herausgeber Gustav Bosse), in: ZfM Mai 1939, S. 529–531

Quellen — Personenstandsregister Wiesbaden (Sterbeurkunde) <> Adressbücher Königsberg (1904–1905), Chemnitz (1908–1911), Berlin (1916), Wiesbaden (1924–1938) <> Max Richard Tanner, in: CARLA (Aufruf: 27. Mai 2025) <> Programmzettel Königliches Conservatorium der Musik zu Leipzig 29. März 1901 (digital) u. 28. Febr. 1902 (digital) <> Rezensionen der Dissertation: Alfred Einstein, in: Literarisches Zentralblatt für Deutschland 20. Okt. 1917, Sp. 1019 <> The Cologne Post and Wiesbaden Times 10. Okt. 1926, S. 7 <> Nachweise zu Tätigkeiten und Auftritten (Auswahl): Duisburger General-Anzeiger, Rhein- und Ruhrzeitung, Hamborner Volks-Zeitung; Wiesbadener Tagblatt, Wiesbadener Badeblatt, Wiesbadener Zeitung; Der Mittag (Düsseldorf); ZfM

Literatur — Art. Tanner, Richard, in: Deutsches Theater-Lexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch, begr. von Wilhelm Kosch, fortgef. von Ingrid Bigler-Marschall, Bd. 4, Bern u. München 1998, S. 2505 <> Hans-C. Richter (Red.), 100 Jahre Wiesbadener Orchesterverein e. V. Festschrift, hrsg. vom Wiesbadener Orchesterverein e. V., Wiesbaden 2003 <> Hermann Roloff, Art. Wiesbadener Sinfonieorchester e. V., in: Stadtlexikon Wiesbaden (online) (Aufruf: 29. Mai 2025) <> Die Geschichte des Wiesbadener Sinfonieorchesters, in: Internetpräsenz Wiesbadener Sinfonieorchester Direktlink zum Beitrag (Aufruf: 28. Mai 2025) <> PriebergH (Eintrag zu Paul Ehlers)

Abbildung: Ankündigung zur Aufführung von Johann Straußens Fledermaus im Theater Wiesbaden unter Leitung Tanners; Wiesbadener Badeblatt 6. Jan. 1932


Bernd Krause

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