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NOETZEL, HERMANN (HIPPOLYT) * Wiesbaden 10. Apr. 1880 | † Starnberg 8. März 1951; Dirigent und Komponist

Ganz so wie Alexander von Glaez und Nikolai von Wilm, die im besten Alter Wiesbaden als „Pensionopolis“ gewählt hatten, fand der aus Kaukehmen unweit von Tilsit im nördlichen Ostpreußen stammende Kaufmannssohn Wilhelm Noetzel (1838–1910), nachdem er einige Jahre in Moskau als Kaufmann und Besitzer einer chemischen Fabrik gelebt hatte, genau diese Stadt geeignet, um sich 1873 dort mit seiner Familie niederzulassen und die Dinge zu tun, die er gerne tat, wobei soziales und kulturelles Engagement eine große Rolle spielte: Die Wiesbadener Adressbücher verzeichnen ihn als Beiratsmitglied des Nassauischen Kunstvereins, als Mitglied des evangelischen Kirchenvorstands und des Bürgerausschusses, als Förderer der Armen-Augenheilanstalt und nicht zuletzt (seit 1880) als Präsident des Cäcilien-Vereins. Dass sein Sohn Hermann alle nur denkbare Förderung erhielt, ist vor diesem Hintergrund nicht zu bezweifeln; die Namen seiner ersten Musiklehrer, unter deren Augen er bereits als 11-Jähriger eine Oper komponierte, kennen wir jedoch bislang nicht. Von Dez. 1896 bis Juli 1898 studierte er am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt Klavier bei James →Kwast sowie (vermutlich privat) Komposition bei Iwan Knorr und wechselte im Frühjahr 1900 nach Sondershausen, um für zwei Jahre am dortigen Konservatorium seine Fähigkeiten vor allem als Dirigent zu vertiefen. Nachdem er sich zwischenzeitlich als „Tonkünstler“ in München (Aug. 1901) sowie – als Gastdirigent – in Merseburg und Koblenz (1902 am Stadttheater) aufgehalten hatte, „widmete er sich ausschließlich der Komposition“ (Wilibald Nagel, Neue Musik-Zeitung 1919, S. 13): Im Spätsommer 1903 konnte er in Berlin seine erste Sinfonie zur Aufführung bringen und reiste im Anschluss nach Bielefeld, wo er nach einjährigem Aufenthalt im Okt. 1904 mit dem dortigen städtischen Orchester seine Sinfonische Phantasie aus der Taufe hob. Ende Januar 1905 gab er auch in München (Kaim-Saal) sein „Komponisten-Debüt“ (Allgemeine Zeitung 1. Febr. 1905), dessen Erfolg ihn veranlasst haben mag, sich dort niederzulassen – dies jedoch nicht ohne auch andernorts nach wie vor Aufführungen seiner Werke (etwa 1907 in Nürnberg und Rostock) zu betreiben und zu leiten sowie gelegentlich zu unterschiedlichen Anlässen seine Heimatstadt zu besuchen. Obwohl Noetzel bis etwa 1910 mehrmals als Dirigent des Münchener Tonkünstler-Orchesters mit „Sinfonie-Abenden“ wie auch bisweilen als Klavierbegleiter in Erscheinung trat und zudem in den Kriegsjahren 1915–1917 Texte für das Feuilleton der Allgemeinen Zeitung beisteuerte, hat man davon auszugehen, dass er auch weiterhin einer Erwerbstätigkeit auf der Grundlage fester Anstellungen nicht nachging bzw. nachzugehen brauchte – dass ihm nach dem Tod des Vaters (1910) ein stattliches Vermögen zugefallen war, ist anzunehmen. Noetzel wird sich alsbald gezielt mit Dichtung und Komposition seiner Oper Meister Guido befasst haben, die 1917 vollendet war und deren Uraufführung im September 1918 in Karlsruhe eine „stürmisch begeistere Aufnahme“ fand (Der Volksfreund 16. Sept. 1918). Dass der Komponist, ein „bisher noch nie aufgeführter Tonsetzer […], plötzlich mit seiner Erstlingsoper die deutschen Bühnen erobert[e]“, empfand ein Berichterstatter der Signale (14. Jan. 1920) nach Inszenierungen in Frankfurt, München, Hannover und Bremen als wenigstens ungewöhnlich – es folgten mehr als 20 weitere Bühnen, darunter Kassel (1922), Zürich (1923), Dresden, Magdeburg, Stuttgart und Braunschweig (bis 1925), Halle, Berlin und Leipzig (1930) sowie noch einmal und wohl letztmals in einer Neuinszenierung Karlsruhe (31. Okt. 1936 mit mehreren Wiederholungen). Noetzel verstand es offenbar, die Dynamik zu nutzen und trat mit weiteren Werken hervor – wiederum in Karlsruhe (1919) die Ouverture Frau Aventiure und 1924 in München die Ballettpantomime Pierrots Sommernacht, die ihrerseits überregionales Interesse hervorrief; der Kritiker, der der Komposition das Urteil „Vollblutkitsch mit Gemüt“ hinterherwarf (Allgemeine Zeitung 24. Apr. 1924), wusste vermutlich genau, dass es gerade hierfür ein dankbares Publikum gab und Noetzel (auch) jenen Anspruch in besonderer Weise zu bedienen in der Lage war. Just um die Zeit, da – und zwar unter Beteiligung des Komponisten an der Probenarbeit – die Vorbereitungen für die Meister Guido-Inszenierung in Stuttgart (30. Apr. 1925) liefen, rückte das Karlsruher Tagblatt einen Beitrag mit dem Titel Hermann Noetzel aus der Feder des Musikredakteurs Heinrich Levinger ein, der den Komponisten offenbar kurz zuvor in seinem Heim besucht hatte – ein „ziemlich romantisches“ (so Noetzel selbst 1936) Gartenhaus im damals noch von München abgelegenen Schwabing, das er wohl seit 1919 bewohnte. Levinger, überzeugt, dass die Kulturenthusiasten das Bild sofort vor ihrem geistigen Auge greifbar haben würden, verglich Noetzel mit Albrecht Dürers Hl. Hieronymus, der in einer „Atmosphäre friedlicher traulicher Heimlichkeit [!], sonnigen frohen Friedens, aber auch andauernden Arbeitens […] einem künstlerischen Schaffen obliegt.“ Sein Werk atme „Weltabgewandtheit und tiefes Verwurzeltsein im Naturhaften“, hätte „nichts von der Problematik unserer Tage: Der Friede des Weltfernen klingt aus ihm.“ Augenscheinlich vom pulsierenden Wohllaut seiner Worte selbst entzückt, formt Levinger aus dem Komponisten das Idealbild des romantischen Künstlers, der sich wiederum mit der Operngestalt Meister Guido ein Alterego, freilich auf dem Gebiet der Malerei, schafft. Tatsächlich wurde es in der Folgezeit stiller um Hermann Noetzel, der sich zwar nicht gänzlich in seine abgeschiedene Klause zurückzog, sich aber nur noch selten in die Öffentlichkeit begab; eines der letzten Male geschah dies 1936, als er der Karlsruher Aufführung des Meister Guido beiwohnte und nebenbei von seinem Gartenhaus erzählte, in dem die Oper entstanden war.

Über Einzelheiten aus den letzten anderthalb Lebensjahrzehnten sind wir nur unzureichend informiert; nachweislich befasste er sich noch bis kurz vor seinem Tod mit der Revision früher Liedkompositionen. Dass man die Gründe für den Rückzug Noetzels aus der Öffentlichkeit (vielleicht überwiegend) in der politisch-gesellschaftlichen Situation zu suchen hat, belegt ein Leserbrief, den er im Januar 1932, und zwar von München aus, wo es diesbezüglich besonders reichlich „Anschauungsmaterial“ gab, in einer Innsbrucker Zeitung veröffentlichen ließ; er spricht von der „gegenwärtigen leidenschaftlichen Verwirrung der Köpfe“, von „cholerischer Verhetzung und Verbohrtheit“, „infamer Anbiederung mit den Faschisten“, „grauenvoller Entgleisung politischen und nationalen Denkens“, schließlich davon, dass „Hitler selber von einem blendenden Dämon besessen“ sei (Der Südtiroler 15. Jan. 1932). Vor diesem Hintergrund werden die Äußerungen Noetzels angesichts der erwähnten Meister Guido-Premiere des Jahres 1936 kaum auf seinen Wunsch hin ausgerechnet im Karlsruher Parteiblatt Der Führer erschienen sein. Alles deutet darauf hin, dass er seine künstlerische Arbeit keinesfalls in den Dienst des Regimes stellen wollte. Wenn dem so ist, erklärt sich auch, warum Noetzel sich just im Oktober 1936 von München abmeldete und sich in Leoni (heute Berg-Leoni) am Starnberger See niederließ; seine Ehefrau Leonore, geb. Goedhart (* Düsseldorf 20. Juni 1894; Heirat 1925 in München), war bereits 1932 dort hingezogen.

Noetzels Bruder Karl (* Moskau 30. Aug. 1870 | † München 29. Dez. 1945), Kulturhistoriker und vor allem Übersetzer aus dem Russischen, lebte etliche Jahre in München. Die in den Jahren 1910 bis 1912 in der Wiesbadener Presse erwähnten jungen Damen namens Nötzel bzw. Noetzel, die sich neben bzw. nach ihrer Ausbildung am Beckerschen Konservatorium mit Klavier- und Gesangsvorträgen hören ließen, zählen zumindest nicht zur unmittelbaren Verwandtschaft Hermann Noetzels.

Werke — (Musikalischer Teilnachlass in D-Mbs (Mus. N 147; dort überlieferte, meist autographe Manuskripte im folgenden Überblick mit NL gekennzeichnet); ungedruckt, wenn nicht anders angegeben) Bühnenwerke: Komische Oper Meister Guido (Text Noetzel; UA Hoftheater Karlsruhe 15. Sept. 1918 unter Fritz Cortolezis); NL (autogr. Partitur); Partitur und Aufführungsmaterial sowie Klavierauszug von Hans Scholz, Wien: UE [1919]; A-Wn, CH-Zk (KlA.), CH-Zz (KlA.), D-B (KlA.), D-LEu (KlA.), D-Mbs, D-SPlb (KlA.), GB-Lbl (KlA.), IL-J (KlA.) – Textbuch Wien: UE 1920 (digital) – s. a.: Hermann Noetzel, Praktische Bemerkungen zur Aufführung des „Meister Guido“, Wien: UE 1920 <> Oper Die Saligen (offenbar nicht aufgeführt); NL <> Bühnenmusik zu Franz Grillparzers Der Traum ein Leben (UA München 1906); NL <> Ballettpantomime Pierrots Sommernacht (Text Noetzel; UA München 20. Febr. 1924); Klavierauszug von Philippine Schick, Wien: UE [1924]; A-Wmi, A-Wu, D-B, D-KA, D-Mbs, D-Sl, D-SPlb <> Orchesterwerke: 1. Sinfonie A-Dur (aufgef. Berlin Sept./Okt. 1903); NL (Autogr. dat. Weihnachten 1902) <> 2. Sinfonie g-moll op. 5 (aufgef. München 1. Febr. 1905); verschollen <> 3. Sinfonie Der Ozean (einsätzig); NL (Autogr. dat. 1. Sept. 1905) <> Orchestersuite Aus dem Leben eines Pierrot (aufgef. München 1. Febr. 1905); verschollen <> Symphonische Phantasie (gr. Orch., Tenorgeige) op. 4 (UA Bielefeld Okt. 1904); verschollen <> Die Toteninsel (Orch.; 1904/1910); NL <> Ouverture zur Oper Yvonne (offenbar nicht aufgef.); NL <> Ouverture Frau Aventiure (nach Scheffel; UA Karlsruhe 10. Dez. 1919 unter Noetzel); NL <> Ouverture Fasching (UA Augsburg Jan. 1924); NL (Ms., dat. Jan. 1924) <> Klaviermusik: Bunte Skizzen (Kl.; Arkadisches Praeludium, Serenade, Zwiegespräch, Arkadisches Intermezzo, Hans Wurst, Faschingslaune), München: Halbreiter [1921]; D-B, D-Mbs <> Klavierstück Aus Arcadien in Louise Langhans-Japhas Musikalbum (Wiesbaden 1904) <> ca. 40 Lieder (meist m. Kl.-Begl.; teils in Zyklen versammelt) aus den Jahren 1892–1940 bzw. in revidierter Fassung (bis 1950); NL – veröffentlicht Zwei Gesänge (Bassbar., Orch.), München: Halbreiter [1927]; D-B, D-Mbs <> Texte (Auswahl): Der Musikant, in: Allgemeine Zeitung 2. Okt. 1915, S. 553–554 <> Über die Operette und die außermusikalischen Wirkungen der Musik, in: Allgemeine Zeitung 16. Okt. 1915, S. 581–581 <> Beiträge in der Rubrik Aus dem Münchner Konzertleben, ebd. seit 1915 <> Beiträge zur Zeitschrift März (München 1907–1917)

Quellen — Kirchenbücher Kaukehmen (Jasnoje, Russland); Standesamtsregister Wiesbaden <> Einwohnermeldekarte und polizeilicher Meldebogen; D-Msta (freundliche Auskünfte von Frau Angela Stilwell, Stadtarchiv München) <> Adressbücher Wiesbaden <> Schülerlisten des Hoch’schen Konservatoriums und des Konservatoriums in Sondershausen <> Briefe s. Kalliope <> Akten betr. Aufführungsrecht von Meister Guido (Stuttgart 1925); D-LUs (Best. E 18 VIII; Bü 867 digital; enthält Briefe Noetzels, der Stuttgarter Intendantur und der Wiener UE) <> Hermann Noetzel, [Leserbrief, dat.] München 3. Jänner 1932, in: Der Südtiroler (Innsbruck) 15. Jan. 1932, S. 2 <> Wilibald Nagel, H. Noetzel, „Meister Guido“, in: Neue Musik-Zeitung (Stuttgart), Nr. 1 (Jan.) 1919, S. 12–13 <> Heinrich Levinger, Hermann Noetzel, in: Karlsruher Tagblatt 31. Okt. 1936 <> hus, Zur Aufführung im Staatstheater: „Meister Guido“ wieder auf dem Spielplan. Unterredung mit dem Komponisten, in: Der Führer. Hauptorgan des NSDAP Gau Baden (Karlsruhe) 31. Okt. 1936, S. 4 <> Bade-Blatt für Wiesbaden 27. Sept. 1873, 25. Apr. 1874; Münchner Neueste Nachrichten 15. Aug. 1901, 18. Nov. 1908, 14. Nov. 1909, 10. Jan. 1910, 2. Dez. 1920, 28. Nov. 1922, 13. Febr. 1924, 19. Febr. 1924, 20. Febr. 1924, 20. März 1925, 20. Okt. 1925 u. ö.; Saale-Zeitung (Halle) 31. Juli 1902; Westfälische Zeitung. Bielefelder Tagblatt 14. Okt. 1903, 17. Okt. 1903, 8. Okt. 1904; Wiesbadener Tagblatt 7. Febr. 1905 (Abend-Ausgabe), 22. Nov. 1908 (Morgen-Ausg.), 1. Dez. 1910 (Morgen-Ausg.), 23. Dez. 1912 (Abend-Ausg.), 15. Sept. 1918 (Abend-Ausg.) u. ö.; Allgemeine Zeitung 11. Nov. 1905, 28. Febr. 1906, 17. Apr. 1909, 20. Febr. 1921, 24. Febr. 1924, 3. Okt. 1924, 10. Okt. 1924, 27. Jan. 1925 und passim; Musikalisches Wochenblatt 20. Juni 1907; Badische Landes-Zeitung 25. Apr. 1917; Kölnische Zeitung 4. Mai 1917; Badischer Beobachter 3. Jan. 1918, 24. Aug. 1918; Der Volksfreund (Karlsruhe) 16. Sept. 1918 sowie zahlreiche weitere süddeutsche Tagesblätter mit (teils voneinander unabhängigen) Berichten über die UA von Meister Guido; Signale für die musikalische Welt 25. Sept. 1918, 14. Jan. 1920, 20. Okt. 1920, 13. Dez. 1922, 3. Sept. 1930, 2. Juni 1937; Karlsruher Zeitung 10. Okt. 1919, 11. Dez. 1919, 20. Dez. 1919; Badische Presse 12. Nov. 1919; Wiesbadener Neueste Nachrichten 10. Juni 1920; Stuttgarter Neues Tagblatt 29. Apr. 1925, 1. Mai 1925; Karlsruher Tagblatt 29. Okt. 1936 <> MMB

Literatur — RiemannL 1922, 1961; Frank/Altmann 1927; MüllerDML; NassB

Abbildung 1: Hermann Noetzel nach einer Photographie in: Neue Musik-Zeitung 1919, S. 13

Abbildung 2: Reklame-Anzeige der Wiener Universal-Edition, in: Signale für die musikalische Welt 1920, S. 365

Abbildung 3: Titel zum Klavierauszug von Pierrots Sommernacht; D-SPlb


Axel Beer

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  • Zuletzt geändert: 2023/11/22 09:36
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