Wilibald Nagel
NAGEL, WILIBALD (nicht Willibald) * Mülheim an der Ruhr 12. Jan. 1863 (nicht 1861) | † Stuttgart 17. Okt. 1929; Musikwissenschaftler
Wilibald Nagel, Sohn eines Mülheimer Realschullehrers (Siegfried Nagel, * Cleve 1819 | † Horchheim bei Koblenz 1874), studierte an der Berliner Universität Germanistik; zudem besuchte er musikwissenschaftliche Lehrveranstaltungen von Heinrich Bellermann und Philipp Spitta. 1886 immatrikulierte er sich an der Universität Zürich, wo er 1887 promovierte, sich 1888 für das Fach Musikwissenschaft habilitierte und anschließend bis 1894 als Dozent wirkte; auch veranstaltete er seit 1887 öffentliche „Historische Musikabende“. Nach einem Forschungsaufenthalt in England lebte er für kurze Zeit in Cleve (1896/97) und wurde – auf Empfehlung von Robert Eitner, den er in Berlin kennengelernt hatte – 1898 Dozent für sein Fach an der Technischen Hochschule in Darmstadt; im April 1905 erhielt er die Ernennung zum Professor. Außerdem engagierte er sich bereits 1899 als Leiter von Männerchören, dirigierte den Akademischen Gesangverein, war als Klavierlehrer am von Wilhelm Süss geleiteten Darmstädter Conservatorium tätig, steuerte in der allgemeinen und Fachpresse Berichte über das städtische Musik- und Kulturleben bei und hielt auch über Darmstadt hinaus öffentliche Vorträge (u. a. im Okt. 1900 im Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt). 1913 kehrte Nagel vorübergehend nach Zürich zurück und ließ sich schließlich 1915 (nicht erst 1917) in Stuttgart nieder, wurde hier Schriftleiter der Neuen Musik-Zeitung (ab Apr. 1915; bis Ende 1921) und (1921) Lehrer für Klavier, Musiktheorie und Musikgeschichte an der Musikhochschule. In Darmstadt war Wilhelm Borngässer sein Schüler.
Dass der Nekrolog Wilibald Nagel als einen „Mann“ beschreibt, „der es weder sich noch anderen leicht machte“, sollte man nicht übersehen. In der Tat zählte Nagel zu den widerborstigen Charakteren, die sich über (vermeintliche) Kleinigkeiten (öffentlich) aufregen konnten – u. a. darüber, dass „Musiker immer wieder die Überschriften der von ihnen aufgeführten Werke aus eigenem Belieben formen“ (Musikalisches Wochenblatt 9. Juli 1908). Sofern man den attackierten Personenkreis um andere Verantwortliche erweitert, muss man dem guten Nagel bis zum heutigen Tage vielfach und leider beipflichten. Wichtiger aber: Nagels Grundhaltung war (entsprechend derjenigen der meisten seiner Zeitgenossen) konservativ und patriotisch, was dazu beigetragen haben mag, dass man das „heiße Eisen“ in neueren Lexika erst gar nicht anfasste. Im Blick auf das Phänomen Neue Musik stand er dem Denken Hans →Pfitzners nahe, was eine spätere Stigmatisierung rechtfertigen mag, sofern eine bestimmte Deutungsweise intendiert ist. Jedoch verdienen Nagels (freilich mit besonderer Schärfe vorgetragene) Gedanken dazu, wie unterschiedlich das Verständnis von künstlerischem und ästhetischem Fortschritt war, durchaus noch gegenwärtig Beachtung sowie vor allem die Bereitschaft zur Differenzierung – auch wenn das (für heutige Ohren und Augen) fürchterliche Wort „undeutsch“ per se die Alarmglocken schrillen lässt. Übrigens war Nagel 1910 in Darmstadt einer der Wortführer gegen die päpstliche Enzyklika Editae saepe Papst Leos X., die (weil als gefährdend für den Religionsfrieden und als Einmischung in Politik und gesellschaftliches Leben empfunden) damals hohe Wellen schlug.
Werke (Auswahl unter besonderer Berücksichtigung derjenigen mit mittelrheinischem Bezug) — Zur Geschichte der Musik am Hofe zu Darmstadt, Leipzig 1900 (Monatshefte für Musikgeschichte 32) <> Das Leben Christoph Graupner’s, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 10 (1908/09), S. 568–612 <> Kleine Beiträge zur Geschichte der Oper in Darmstadt, in: III. Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft Wien, 25. bis 29. Mai 1909. Bericht vorgelegt vom Wiener Kongreßausschuß, Wien/Leipzig 1909, S. 184–186 <> Zur Biographie des Joh. Andr. Herbst (Autumnus), in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 11 (1909/10), S. 474–482 <> Gottfried Grünewald, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 12 (1910/11), S. 99–107 <> Deutsche Musiker des 18. Jahrhs. im Verkehre mit J. Fr. A. v. Uffenbach, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 13 (1911/12), S. 69–106 <> Neues über Joh. Fr. A. v. Uffenbach, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt 21. Dez. 1911 (1. Morgenblatt), S. 2–3 <> Christoph Graupner als Sinfoniker […], Langensalza 1912 <> Musik-Kultur. Ketzerische Sommer-Gedanken, in: Neue Musik-Zeitung 1913 (Heft 1), S. 1–5 <> Johanna Senfter, in: Neue Musik-Zeitung 36, Nr. 20, 1915, S. 245–246 <> Rudi Stephan † (mit einem von Stephan selbst mitgeteilten Abriss seines Lebens), in: Neue Musik-Zeitung 37, Heft 3 (März) 1916, S. 40–41 <> Der Futurismus – eine undeutsche Erscheinung, in: Neue Zeitschrift für Musik 1920, Heft 1, S. [1]–3 <> Eine geplante Musikgeschichte am Darmstädter Hofe 1570–1800 (RiemannL 1905; s. a. Noack 1967, S. 7–8) kam nicht zur Veröffentlichung.
Quellen — Adressbücher Stuttgart (ab 1915, Nachtrag) <> N. N., [Nekrolog], in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 1929, S. 127 <> Rhein- und Ruhrzeitung (Duisburg) 14. Jan. 1863, 28. Dez. 1874 (Nekrolog Siegfried Nagel); Neue Zücher Zeitung 7. Dez. 1887, 18. Apr. 1888 u. ö.; Frankfurter Zeitung und Handelsblatt 13. Juli 1898 (Abendblatt), 29. Aug. 1899 (Abendblatt), 23. Okt. 1900 (3. Morgenblatt), 19. Juni 1910; Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt 5. Juli 1905 (Beilage Nr. 19)
Literatur — Philipp Schweitzer, Professor Dr. Wilibald Nagel zum 100. Geburtstag, in: Darmstädter Tagblatt 11. Jan. 1963 <> Art. Nagel, Wilibald, in: RiemannL ab 1905 <> Richard Schaal, Art. Nagel, Wilibald, in: MGG1 <> Karin Steinbeck, Art. Nagel, Willibald [sic!], in: Stadtlexikon Darmstadt (online) <> Esma Cerkovnik, Art., Nagel, Wilibald, in: Musik in Zürich. Ein Stadtführer, hrsg. von Bernhard Hangartner und David Reißfelder, Zürich 2021, S. 154–155
Abbildung 1: Geburtsanzeige in der Duisburger Rhein- und Ruhrzeitung 14. Jan. 1863
Abbildung 2: Wilibald Nagel nach einer Fotographie aus der Stuttgarter Zeit (Digitalisat der Porträtsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek)
Axel Beer