ehrke


EHRKE, REINHOLD (JOHANNES RICHARD) * Berlin 20. Mai 1861 | † Düsseldorf 1919/1921; Kapellmeister und Komponist

Die zufällige Begegnung – auf der Suche nach etwas ganz anderem freilich – mit einem vom Verlag André in Offenbach 1899 veröffentlichten Seckbach-Walzer stand am Anfang der Spurensuche nach dem Komponisten, eines Kapellmeisters namens R. Ehrke, von dem (nicht nur) der Verfasser des vorliegenden Artikels bis dahin nie gehört hatte. Dass aber jemand, der einen Seckbach-Walzer zu Papier brachte, sich dort – also in Seckbach, das damals noch nicht von Frankfurt geschluckt worden war – wenigstens für ein paar Stunden aufgehalten haben muss, mithin zum temporären „mittelrheinischen Komponisten“ und somit auch potenziellen MMM-Insassen wird, war sogleich klar. Ehrke mag auf der Durchreise eine Pause eingelegt haben; im Gasthaus wurde die äppelwoiselige wie sangeslustige Gesellschaft nicht müde, den damals allbekannten Schlager Komm’ Karline, komm’ von →Adolf Spahn (mit dem Kehrreim „Wir woll’n nach Seckbach geh’n, da ist’s so wunderschön!“) immer aufs neue anzustimmen, und da womöglich ein Klavier zur Verfügung stand, entwickelte sich unter routinierter Führung des Kapellmeisters ein munteres Miteinander, das schließlich in einen von Ehrke niedergeschriebenen Walzer mündete. So wird es gewesen sein, so ähnlich jedenfalls.

Aber der Reihe nach: Reinhold Ehrke, dessen Vater in Berlin als Kutscher, zuvor möglicherweise auch als Karussellbesitzer tätig war, repräsentiert nicht die Welt des erhabenen musikalischen Genusses, sondern die des kurzweiligen Unterhaltens und Unterhaltenwerdens, wie sie während der Kaiserzeit ganz besonders in Berlin in großem Variantenreichtum begegnete. Dass der Musiker, über dessen Ausbildung und Hineinwachsen in diesen bunten Kosmos wir nichts wissen, seinen Namen alsbald mit der Tätigkeitsbezeichnung Kapellmeister verband, signalisiert seine organisatorische wie auch musikalische Fähigkeit, immer wieder neu zu formierende Ensembles den jeweils spezifischen und vielfach wechselnden Aufgaben anzupassen. Abgesehen von vermutlich eher privaten Aufenthalten in Hamburg und im Rhein-Main-Gebiet (s. o.) während der 1890er Jahre scheint Ehrke zunächst überwiegend in Berlin tätig gewesen zu sein. 1903 ließ er sich in Köln nieder; dort und vereinzelt im weiteren geographischen Umkreis standen mehr oder weniger dauerhafte Engagements mit seinem Reinhold-Ehrke-Orchester in Cafés und Restaurants mit Tanzmusik wie auch bunten Opern- und Operettenprogrammen einer ganzen Reihe besonderer Aufgaben gegenüber, etwa der Leitung des „Ausstellungs-Orchesters“ bei der Handwerksausstellung in Köln (Juni bis Aug. 1905) sowie des 22 Musiker umfassenden Theaterorchesters beim einmonatigen Gastaufenthalt des beliebten Berliner Varieté-Theaters der Gebrüder Herrnfeld im Düsseldorfer Apollo-Theater im Mai 1908. Im Oktober und November 1910 finden wir Ehrke vorübergehend als Leiter der Hauskapelle des Frankfurter Hotels Luitpold in der dortigen Kaiserstraße, und bald danach – spätestens seit der Saison 1913/14 (und noch bis 1915/16) – ist Ehrke erneut in Düsseldorf, und zwar als Kapellmeister des erwähnten Apollo-Theaters, greifbar. Für die Folgezeit ließen sich bislang nur wenige Auftritte bzw. allenfalls kurzzeitige Verpflichtungen ermitteln: Im Dezember 1916 fungierte Ehrke als Pianist bei einem Gastspiel des Mannheimer Künstlertheaters in Karlsruhe, und zumindest für die erste Dezemberhälfte des Jahres 1917 war er für das Wiesbadener Walhallatheater als Orchesterleiter gewonnen worden – seit der Zeit um 1900 hatte bei den Kurkonzerten der Stadt schon das eine oder andere Stück aus seiner Feder (etwa der Apollo-Marsch und der Feinsliebchen-Galopp) auf dem Programm gestanden, und nun wurde Ehrke (wie vor ihm bereits Wilhelm Aletter und Wilhelm Großkopf) Mitgestalter eines für Varieté-Bühnen typischen Programms, das einer „anmutigen Konzertsängerin“, einer „temperamentvollen Verwandlungstänzerin“, einer „lustigen Vortragskünstlerin“, dem „Isariaquartett […] in geschmackvoller Biedermeiertracht“, den „komischen Parodisten Runkel und Rappo“ ebenso die Bühne bot wie der „berühmten Schulreiterin Lene Marder“ und ihrem „schönen Araberschimmel“ (Wiesbadener Tagblatt 5. Dez. 1917); und jedesmal bedurfte es einer von routinierter Hand geformten musikalischen Umrahmung. Dass Ehrke sich noch einige Monate in Wiesbaden aufhielt und möglicherweise plante, sich dort niederzulassen, ist nicht auszuschließen; jedoch verzeichnet ihn das Düsseldorfer Adressbuch des Jahres 1920 wieder als Bewohner der niederrheinischen Metropole, wobei sich jedoch keine Hinweise mehr auf eine öffentliche Tätigkeit finden.

Reinhold Ehrke war zweimal verheiratet; nachdem er sich von seiner ersten Ehefrau, der Berliner Näherin und Arbeitertochter Marie Luise geb. Frömling (* 1865; Eheschließung 1883 in Berlin), hatte scheiden lassen, heiratete er 1891 in Hamburg die Advokatentochter Dorothea Anna geb. Wienecke (* New York 1871 | † Düsseldorf 1927).

Werke — Ehrke, dessen freilich sehr lückenhafte (und mutmaßlich nicht sonderlich ernsthaft verwaltete) Opusreihe bis über 300 reicht und der daneben eine mindestens ebenso große Zahl von Werken ohne Zählung erscheinen ließ, komponierte ganz überwiegend Tanzmusik, humoristische Lieder und Ensembles, Couplets sowie eine Operette König Aqua (1903), die in den Jahren 1886 bis 1919 vor allem in Berliner Verlagen herauskamen; in der mittelrheinischen Region gelang es lediglich André in Offenbach, mit dem Kapellmeister ins Geschäft zu kommen: Seckbach-Walzer […] über das bekannte Spahn’sche Lied „Komm’ Karline, komm’!“ mit unterlegtem Text (Kl.; auch im Arr. f. Orch., Blasorch. bzw. Zither), [1899]; D-B, D-BABHkrämer, D-FRu, D-Kbeer, D-OF <> Marsch Auf Vorposten (Kl.), [1918]; D-B, D-OF

Quellen — Standesamtsregister Charlottenburg, Düsseldorf und Hamburg <> Adressbücher Berlin, Köln und Düsseldorf <> Verlagsvertrag mit André (1916); D-OF <> Hamburger Fremden-Blatt 13. Apr. 1898, 28. Nov. 1899; Wiesbadener General-Anzeiger 22. Jan. 1901; Wiesbadener Tagblatt 20. März 1902 (Morgen-Ausgabe), 30. Aug. 1911 (Abend-Ausg.), 5. Dez. 1917 (Abend-Ausg.); Kölner Lokal-Anzeiger 23. Apr. 1905, 29. Sept. 1911; Kölnische Zeitung 3. Juli 1907, 28. Apr. 1908, 8. Juni 1908; Märkischer Sprecher (Bochum) 31. Dez. 1907, 23. Jan. 1908; Die Fackel (Frankfurt) 1. Okt. 1910, 15. Okt. 1910, 22. Okt. 1910; Düsseldorfer Theater-Rundschau 1913, 1914; Karlsruher Zeitung 23. Dez. 1916; Badische Landeszeitung (Karlsruhe) 27. Dez. 1916 <> Programme des Apollo-Theaters Düsseldorf 1913/14, 1914/15, 1915/16; D-DÜl <> MMB; Pazdírek

Abbildung: Titel des Seckbach-Walzers mit hübscher Silhouette des Dorfs und den Taunusausläufern im Hintergrund; D-Kbeer


Axel Beer

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  • Zuletzt geändert: 2025/12/11 08:37
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  • angelegt 2025/12/10 19:20