Wilhelm Aletter
ALETTER, WILHELM (LEONHARD HEINRICH) * Bad Nauheim 25. (nicht 27.) Jan. 1867 | † Wiesbaden 30. Juni 1934; Komponist, Verleger und Unterhaltungskünstler
Wilhelm Aletter entstammte einer Bad Nauheimer Bäckerfamilie. Ob er sich schon 1883 (so Frank/Altmann), also als 16jähriger, in Berlin als Musikalienhändler aufhielt, ist fraglich; womöglich absolvierte er zunächst eine Buchhändlerlehre bei seinem Verwandten Ernst Aletter (1854–1924) in Mannheim. Spätestens nachdem er 1889 – über seine musikalische Ausbildung bis dahin ist nichts bekannt ؘ– erstmals eine Komposition (sein op. 40 [!] in Mainz) veröffentlicht hatte, verlegte er seinen Wohnsitz nach Berlin (Friedenau) und erhielt u. a. bei Engelbert →Humperdinck Unterricht. 1895 gründete er dort – insbesondere für seine eigenen Werke – einen Musikverlag und kehrte kurz darauf nach Bad Nauheim zurück, wo er im August 1896 (als Musikverleger) heiratete; seine Firma bestand bis 1898 in Wiesbaden und ging 1904 an Bosworth in Leipzig über. Seit 1897 waren Aletters Schlagerlieder und Tänze (nicht nur) in Wiesbaden – inzwischen hatte er sich hier niedergelassen und nahm nebenbei Gesangsunterricht bei Ludwig Strakosch (1855–1919) – omnipräsent; das Wiesbadener Tagblatt (21. Jan. 1900) apostrophierte ihn als den „vielleicht populärsten Bürger seit Jahren“ und verbreitete gleichzeitig die (mutmaßlich lancierte) Meldung, Aletter hätte einen Ruf als Kapellmeister an „eines der größten Variété Theater Europas erhalten“, dem er jedenfalls nicht folgte. Nachdem er vertretungsweise zur Karnevalszeit 1900 die Kapellmeisterstelle am Wiesbadener Walhalla-Theater übernommen hatte, besann er sich mehr und mehr auf die Vermarktung seiner Kompositionen, vor allem in Form von „Aletter-Abenden“, bei denen er signierte Gratisexemplare seiner neuesten Titel kostenlos an die jeweils ersten 300 Besucher verteilte – dies nicht nur in Wiesbaden und (sehr wahrscheinlich) im Bad Nauheimer Hotel Augusta Victoria seines Bruders Jean Peter, sondern auch in Berlin, wo er sich immer wieder für einige Zeit aufhielt, Leipzig (1901), Wien (seit 1903 mehrfach) und sogar New York (1904); als „popular Vienna Composer“ (The New York Clipper) spielte er offenbar mit dem Gedanken, sich dort niederzulassen. Zwischenzeitlich – im Herbst 1902 – inserierte Aletter als Leiter einer wohl nur wenige Wochen bestehenden (oder auch nur geplanten) Soubrettenschule in Frankfurt auf der Suche nach „stimmbegabte[n] j[ungen] Damen als Lehrfräul[ein] f[ür] Variété“ (Wiesbadener Tagblatt 26. Nov. 1902). In Wiesbaden und Mainz veranstaltete er 1907 mehrere „Hessische Volksliederabende“, bei denen seine Vertonungen folkloristischer und teils aus eigener Feder stammender Texte „von Winzern aus der Nähe“ (Wiesbadener General-Anzeiger 15. März 1907) vorgetragen wurden. Anschließend zog Aletter wieder nach Berlin (Steglitz) um – die Adressbücher bezeichnen ihn wechselweise als Komponist und Verleger, gelegentlich auch als Musiklehrer – und kehrte wohl Ende 1931 nach Wiesbaden, wo er auch in der Zwischenzeit das eine oder andere Mal (etwa 1923) wieder zu Gast gewesen war, zurück.
Mit seinen gelegentlich verwendeten Pseudonymen (Leo Norden (seit 1898), A. Tellier (seit 1902) u. a.), deren Bandbreite noch nicht zu überblicken ist – jener Jaromir Hackelbein, der 1898 ausgerechnet bei Aletter in Wiesbaden sein opus primum et ultimum (Die fidelen Pflasterer. Babys erstes Stückchen) veröffentlichte, zählt zweifellos dazu – trieb der Komponist ein vergnüglich-amüsantes Versteckspiel, das kurzweiligen, aber auch sich schnell überlebenden Gesprächsstoff bot. Die ständige Suche nach unverbrauchten Konzepten ließ ihn, unterstützt von seiner Frau, kurz nach seiner Rückkunft aus New York zur Erfindung eines (fast) ohne Energiezufuhr funktionierenden Brat- und Backapparats schreiten (die Presse berichtete im Oktober 1905 darüber), der 1917 einen Höhepunkt in der Karriere des Berliner Verlegers herbeiführte: Zum Bratbüchlein für Rost- und Pfannengerichte seiner Autorin Hedwig Heyl (1850–1934) schrieb Aletter, der nicht nur als Erfinder jenes inzwischen (seit spätestens 1908) als „Heinzelmännchen“ patentierten Geräts, sondern auch der „Obu“-Rostpfanne (also „ohne Butter“) im Impressum figurierte, ein Vorwort, in dem er all denen, die ein neues Rezept einsenden würden, eine nach Interessen und Fähigkeiten ausgewählte „Komposition gratis mit eigenhändiger Widmung“ (den „Nichtmusikalischen“ dagegen „als Ersatz“ eine Bratpfanne) versprach. Karl Kraus ließ es sich nicht nehmen, hierüber eine bitterböse Satire (Es ist alles da) in seiner Zeitschrift Die Fackel zu veröffentlichen.
Werke — Ein befriedigender Überblick über die in die Hunderte gehenden Kompositionen (Salonstücke für Klavier, Lieder, Soloszenen, Couplets, Chöre, Bühnenstücke und vieles mehr), deren vielfach willkürliche und lückenhafte Opuszählung bis (mindestens) 345 reicht, ist bislang nicht möglich. Zu Aletters seinerzeit und teils bis heute bekanntesten Stücken, die in vielen Bearbeitungen, Auflagen sowie auch in Salonbänden erschienen, zählen Rendez-vous. Intermezzo Rococo (Kl.), Leipzig: Bosworth [1893] (s. Abb.); „Ach könnt’ ich noch einmal so lieben“ (Sst., Kl.), Berlin: Rühle & Hunger [1895]; Großmütterchen. Menuett (Kl.), ebd. [1900] sowie die „schaurige Drehorgel-Ballade“ Sabinchen war ein Frauenzimmer, Berlin: Aletter [1895] <> Einige Werke brachte Aletter bei Kittlitz-Schott in Mainz (Die zwei Ratten oder Ruschi, kuschi, muschi, fidibum, humoristische Soloszene (Sst., Kl.) op. 40 [1889]), in seinem Wiesbadener Verlag (darunter als Leo Norden 1898 ein Tanzalbum für unsere Lieblinge), bei Schott in Mainz (seit 1900, darunter eine Carnaval-Polka [1902]; GB-Lbl) und André in Offenbach (seit 1899; D-OF) heraus.
Quellen und Referenzwerke — Personenstandsregister Bad Nauheim und Wiesbaden <> Briefe (überwiegend an Schott in Mainz, 2 an Humperdinck) s. Kalliope; Briefe und Verlagsverträge in D-OF <> Hamburger Passagierlisten 14. Apr. 1904 <> Friedenauer Lokal-Anzeiger 20. Juli 1895, 19. Okt. 1905, 27. Jan. 1916 und passim; Wiesbadener Bade-Blatt passim; Wiesbadener Tagblatt 21. Jan., 6. Febr. 1900, 12. und 15. Dez. 1901, 26. Nov. 1902, 24. Mai 1911 (betr. Unterricht bei Strakosch), 4. Mai 1923 und passim <> Wiesbadener General-Anzeiger 17. Febr. 1900, 15. März, 26. Okt. 1907 und passim; Neues Wiener Tagblatt 17. Febr. 1904; The New York Clipper 11. Juni 1904; Die Fackel (Frankfurt) 7. Okt. 1905; Allgemeine Zeitung (München) 13. Okt. 1905; Österreichische Monatsschrift für den öffentlichen Baudienst 1. Aug. 1908 (betr. „Heinzelmännchen“); Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 12. Juli 1912 (betr. Pseudonyme) <> Adressbuch für den Berliner Buchhandel 1927 <> Karl Kraus, Es ist alles da, in: Die Fackel (Wien), 18. Jan. 1917, S. 73–75 <> MMB, HmL, Pazdírek <> ChallierV
Literatur — Frank/Altmann 1927, 1936; MüllerDML (mit irrigen Angaben) <> Peter Czerny/Heinz P. Hofmann, Der Schlager. Ein Panorama der leichten Musik, Bd. 1, Berlin 1968, S. 279 (mit fragwürdiger Deutung des Sinns der Pseudonyme) <> Andreas Ballstaedt/Tobias Widmaier, Salonmusik. Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis, Stuttgart 1989, S. 365 <> NassB 1992.
Abbildung 1: Wilhelm Aletter, in: Die Fackel 18. Jan. 1917, S. 74
Abbildung 2: Verlags-Schein für André in Offenbach, Wiesbaden 9. Aug. 1899; D-OF
Abbildung 3: Rendez-vous. Intermezzo Rococo, Leipzig: Bosworth [1893]; Ausgabe ca. 1915; D-Kbeer
Hörbeispiel: Wilhelm Aletter, Herbstlied aus Sechs Kinderstücke (Kl.), Berlin: Wernthal [1899] (Aufnahme von Kristina Krämer für das MMM2, Juli 2020)
Axel Beer