astor


ASTOR genaue Lebensdaten unbekannt, fl. Marburg 1965/67, † wohl vor 1971; Organist, Sänger (Knurrer) und Haustier

Astor war ein musikalisch außerordentlich talentierter Dobermann (canis lupus familiaris dobermannensis), dessen künstlerische Fähigkeiten bei seinen menschlichen Zeitgenossen nur wenig gebührende Anerkennung fanden. Es ist überliefert, dass er an der Orgel in der Aula der Marburger Universität improvisierend aktiv war sowie in der dortigen Elisabethkirche hin und wieder in freier Technik unbekannte Gesänge knurrend zum Besten gab.

Der auch als „der schwarze Geselle“ bekannte Künstler hatte einen treuen Begleiter namens Kurt Utz, der von 1949 bis 1970 an der Universität Marburg dozierte und ab 1954 parallel dazu als Organist an der besagten Kirche angestellt war. Astor bestieg gelegentlich die Kanzel des Gotteshauses, um von dort herab in bedrohlich wirkenden Tönen die anwesende Gemeinde anzusingen. Die Inhalte seiner stets textlos vorgetragenen Knurrlieder sind nicht bekannt, doch kann man wohl anhand des symbolträchtigen Vortragsortes davon ausgehen, dass in ihnen das Jüngste Gericht, vielleicht aber auch nur die nächste Mahlzeit thematisiert wurde. Politische Äußerungen jedenfalls, wie sie Loriots sprechender Hund Bello (nach menschlicher Vorgabe!) von sich gab („Herr Otto Mohl fühlt sich unwohl am Pol ohne Atomstrom“) fielen wohl nicht. Bello, ein Mops, war übrigens – das nur nebenbei – trotz der ähnlichen Begabung nicht direkt verwandt mit Astor, was allein schon an der körperlichen Konstitution erkennbar ist. Auch in ihrem jeweiligen Sozialverhalten waren deutliche Differenzen zu beobachten: Während Bellos Natur eher friedlicher Art war, schlug Astor oft warnende, abschreckende Töne an. Sobald sich interessierte Zuhörer dem Vortragenden näherten, um den angedeuteten Text besser verstehen zu können, verwandelte sich dessen anmutiger Gesang in ein aggressives Zähnefletschen, so dass Begleiter Utz, der wusste, wie man mit Astor umzugehen hatte, beschwichtigend eingreifen musste. Die geknurrte A-cappella-Predigt war damit meist vorzeitig beendet.

Ähnlich erging es Astor bei seinem Orgelspiel. Utz, der zwar auch ab und zu improvisierte, meist aber nach gedruckten Noten spielte, musste seinen musikalischen Vortrag bisweilen unterbrechen, um dem Künstler den Zugang zum Instrument zu gewähren, beispielsweise zur Orgel der Universitätsaula. Dieser folgte zunächst der Aufforderung „Komm herein und kusch Dich!“ (Hannibal [1965?], zit. nach Stadtschrift Kurt Utz 1996, S. 80), indem er schweigend neben dem Instrument Platz nahm. In unbeobachteten Momenten jedoch, während Utz werkerklärend zu seinen Studierenden sprach, bemächtigte sich Astor auch einmal selbst des Instruments, welches dann – so empfand es die Zuhörerschaft – wie von allein, „wild und ohne alle musikalischen Gesetze“, zu erklingen schien (ebd.). Ähnlich wie bei den Gesangsvorträgen von der Kanzel, brachte Dozent Utz den vierbeinigen Organisten zum Schweigen, der den Rest der Veranstaltung unter der Orgelbank als aufmerksamer Zuhörer verbrachte.

Nach Astors Tod übernahm eine aus einer angesehenen Familie Appenzeller Sennenhunde stammende Hündin namens Diana den Platz neben Utz ein (vgl. die Photographie von 1971 bei Althaus (Facebook), Eintrag vom 21. Juli 2023). Ob sie musikalisch ähnlich begabt war wie Astor, ist nicht bekannt. Jedenfalls haben weder Astor noch Diana bisher in den einschlägigen Veröffentlichungen zur Zoomusikologie (etwa Gredig 2018) Beachtung gefunden. Mangels vorhandener Aufzeichnungen der Astor’schen Improvisationen konnten diese auch in neueren Untersuchungen zur medialen Verortung von Tierstimmen und ihrer Wahrnehmung innerhalb menschlicher Klanglandschaften (vgl. Jäggi 2017–2019) nicht berücksichtigt werden. Auch eine Bewertung der geistigen Fähigkeiten Astors (vgl. Böhm u. Böhnert 2023) war bislang aus demselben Grund nicht möglich.

Werke — Leider wurde es versäumt, Astors eigenwillige Improvisationskunst für die Nachwelt aufzuzeichnen, so dass weder Mitschnitte noch Drucke existieren. Astor soll einen ähnlichen dynamischen Stil gepflegt haben wie sein Begleiter Utz.

Quellen — Hannbial [sic!], Intermezzo, in: Marburger Mosaik [1965?] <> Meckes, unter uns gesagt, in: Oberhessische Presse 17. Okt. 1967 <> Erwin Althaus, Kurt Utz, Erinnerungsseite auf Facebook, geführt ab 23. Dez. 2015, letzter Eintrag 24. Dez. 2024 (Aufruf: 27. März 2025)

Literatur — Erwin Althaus u. Peter Brusius, Kurt Utz, 1901–1974. Universitätsmusikdirektor der Philipps-Universität Marburg 1949–1966. Kantor und Organist der Elisabethkirche 1954–1970, Marburg 1996 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, Bd. 55), S. 79–81 <> nicht genannt wird Astor bei: Patricia Jäggi (Projektleitung), Projektbeschreibung Animal Sounds, durchgeführt an der Hochschule Luzern 2017–2019, online (Aufruf: 27. März 2025); Mathias Gredig, Tiermusik. Zur Geschichte der skeptischen Zoomusikologie, Würzburg 2018; Felix Böhm u. Martin Böhnert, Wie kommen Tierlaute in einen Text? Philosophisch-linguistische Untersuchungen zu Inskription und epistemischer Transkription in der empirischen Tierforschung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Bd. 53, 2023, S. 259–286 (Open Access; Aufruf: 27. März 2025)

Abbildung: Astor, der „schwarze Geselle“, undatierte Photographie; nach: Stadtschrift Kurt Utz 1996, S. 80 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Magistrats der Stadt Marburg)


Bernd Krause

Diese Website verwendet Cookies. Durch die Nutzung der Website stimmen Sie dem Speichern von Cookies auf Ihrem Computer zu. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzbestimmungen gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
  • astor.txt
  • Zuletzt geändert: 2025/05/06 11:30
  • von kk
  • angelegt 2025/03/28 14:53