graupner


GRAUPNER, CHRISTOPH * Kirchberg (Sachsen) 13. Jan. 1683 | † Darmstadt 10. Mai 1760; Komponist, Hofkapellmeister

Christoph Graupner verbrachte 45 aktive Dienstjahre am Hof von Hessen-Darmstadt und war somit gleichermaßen der produktivste wie prägendste Musiker der älteren Residenzgeschichte. Auf Veranlassung von Landgraf Ernst Ludwig kam er 1709 zunächst als Vize-Kapellmeister nach Darmstadt, übernahm aber bereits 1711, noch vor dem Ableben seines Vorgängers Wolfgang Carl Briegel 1712, die oberste Leitung der Hofkapelle. Im selben Jahr heiratete er die Pfarrerstochter Sophie Elisabeth Eckhard (1693–1742) aus Bischofsheim am Main. Nach musikalischen Anfängen in Kirchberg und Umgebung hatte Graupner ab 1693 die Leipziger Thomasschule besucht, wo er insbesondere von Johann Schelle und Johann Kuhnau unterrichtet wurde. 1702 nahm er ebenfalls in Leipzig ein Studium der Rechte auf und begab sich 1706 nach Hamburg, um dort an der Gänsemarktoper eine Stellung als Cembalist anzutreten, wo ihn der Darmstädter Landgraf kennenlernte. Graupner hatte dort bis zu seinem Weggang nach Darmstadt fünf vollständige Opern komponiert (sowie vermutlich an weiteren mitgearbeitet), allerdings sind nur zwei von ihnen erhalten geblieben (Dido, Königin von Carthago, 1707; L’Amore Ammalato. Die kranckende Liebe, oder: Antiochus und Stratonica, 1708). Es sind zugleich die frühesten von Graupner bekannten Werke. In Darmstadt baute der neue Kapellmeister eine stehende Oper nach Hamburger Vorbild auf; für den neuen Wirkungsort lassen sich zwischen 1710 und 1719 nochmals fünf verschiedene Musiktheaterproduktionen aus Graupners Feder nachweisen. Finanzielle Gründe führten jedoch nach weniger als einem Jahrzehnt zur Einstellung des ambitionierten Unternehmens.

Graupners heimlich erfolgte Bewerbung um die Stelle des Thomaskantors in Leipzig 1722/23 dürfte auch vor dem Hintergrund der auf diese Weise zunehmend unattraktiveren Position an der Spitze der Darmstädter Hofkapelle zu sehen sein; sein Dienstherr ließ ihn jedoch nach erfolgreicher Probekomposition nicht ziehen, er befürchtete einen weiteren Exodus seiner Musiker und gewährte Graupner neben erheblicher Gehaltszulage weitere Privilegien für seine Familie, so dass dieser bis an sein Lebensende im Amt des hessen-darmstädtischen Hofkapellmeisters verblieb, 1754 jedoch wegen Erblindung seine aktive Tätigkeit beenden musste. Wenngleich in der Folge nahezu keine Reisen in auswärtige Territorien bekannt sind, blieb Graupner sehr wohl über kompositorische Entwicklungen an anderen Orten auf dem Laufenden; davon geben nicht zuletzt zahlreiche Abschriften von zeitgenössischen Werken fremder Provenienz aus seiner eigenen Feder Zeugnis, die offenkundig auch zum Musizieren durch die Hofkapelle gedacht waren. Kontakte in die musikalische Außenwelt dürften über die Mitglieder der Hofkapelle erfolgt sein. Schon bald nach Graupners Dienstantritt hatte Ernst Ludwig weitere Musiker aus den Opernzentren Leipzig und Hamburg nach Darmstadt verpflichten lassen, und 1723 kam auch noch Johann Samuel Endler nach Darmstadt, der 1740 zum Vizekapellmeister Graupners aufrückte.

Bereits unmittelbar nach seiner Ankunft in Darmstadt 1709 hatte Graupner erste Kantaten für die sonntäglichen Gottesdienste geschrieben, und diese Aufgabe war auch nach Beendigung der Opernaktivitäten sein zentrales Betätigungsfeld. Über lange Jahre teilte er sich diese Arbeit mit seinem ersten Vizekapellmeister Gottfried Grünewald, nach dessen Tod 1739 war er zunächst allein für die Kantatenproduktion zuständig. Im Lauf seiner langen Dienstjahre kamen so rund 1500 Kantaten zusammen, einige von ihnen auch für weltliche Anlässe. Anfangs hatte Graupner dafür auf Texte verschiedener Autoren zurückgegriffen (darunter Erdmann Neumeister (1671–1751), Georg Christian Lehms (1684–1717) und Heinrich Walther Gerdes (1690–1742)); ab 1718 verfasste Johann Conrad Lichtenberg (1689–1751), seit 1717 Graupners Schwager, über Jahrzehnte hinweg die Kantatenlibretti. Vertraglich für die gesamte „music so wohl in alß außer der Kirchen“ (HStAD, Konzept zum Anstellungsdekret D 8 15/6) verantwortlich, schrieb Graupner auch zahlreiche instrumentale Werke (Ouvertürensuiten, Konzerte, Sonaten, Sinfonien) sowie eine Reihe von Clavierpartiten. Im Gegensatz zu den Kantaten ist die Entstehungszeit von Graupners handschriftlich überlieferter Instrumentalmusik ungewiss (Schrift- und Papiervergleiche mit den Kantaten bilden die wichtigsten Kriterien für vorgenommene grobe Datierungen in RISM). Als gesichert darf gelten, dass die Sinfonien zu den späteren Werken gehören.

Schon die Zeitgenossen haben an Graupner dessen äußerst penibles Arbeiten gerühmt, was sich nicht zuletzt auch in seinen in der Regel äußerst akkurat geschriebenen Partituren und Orchesterstimmen zeigt. Zu Graupners kompositorischen Charakteristika gehört neben der grundsätzlichen Verlagerung von der Horizontalen in die Vertikale, d. h. weg von der Kontrapunktik zu einem einfacheren homophoneren Satz, eine starke Gewichtung des Parameters „Klang“. Hier galt seine besondere Vorliebe den dunkleren, tendenziell verhalteneren Registern und Klangfarben der jeweils tieferen Nebeninstrumente Viola d’amore, Flauto d’amore, Oboe d’amore sowie Chalumeau und Fagott. Oftmals finden sich aparte und exklusive Kombinationen, z. B. in den Konzerten für mehrere Soloinstrumente. Außerordentliche Experimentierfreude zeichnet Graupner bis in seine letzten Schaffensjahre aus. Dabei orientierte er sich mit seinen Werken stets an den Möglichkeiten seiner Musiker: anspruchsvolle oder einfache Gesangspartien, solistische Verwendung von einzelnen Instrumenten oder bewusster Verzicht – an seinen Kompositionen lässt sich stets auch der jeweilige Qualitätsstandard der Hofkapelle ablesen.

Werke — Graupners musikalisches Œuvre aus seiner Darmstädter Zeit wird bis heute geschlossen in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt aufbewahrt. Seine Weisung, seine Kompositionen nach dem Tod zu vernichten, wurde nicht umgesetzt; stattdessen kam es zu einem jahrzehntelangen Rechtsstreit zwischen den Erben und dem landgräflichen Hof über die Frage, wer rechtmäßiger Besitzer dieser in Diensten geschaffenen Werke sei. Die Querelen zogen sich bis 1819, als endlich entschieden wurde, dass Graupners musikalische Hinterlassenschaft in die Hofkapellbibliothek überstellt werden sollte, interessierte man sich bereits längst nicht mehr dafür. Im Zweiten Weltkrieg wurden speziell die Werke Graupners (und seiner Zeitgenossen) gezielt ausgelagert, so dass sie, anders als die große Mehrheit des Musikbestandes, der Brandnacht von 1944 nicht zum Opfer fielen. Graupners Kompositionen in D-DS sind digitalisiert, s. hier sowie auch RISMonline.
Werkverzeichnisse: Oswald Bill und Christoph Großpietsch, Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke. Graupner-Werke-Verzeichnis, GWV, Instrumentalwerke; Oswald Bill, GWV, Vokalwerke Kirchenkantaten 1. Advent bis 5. Sonntag nach Epiphanias; Oswald Bill, GWV, Vokalwerke Kirchenkantaten Septuagesima bis Ostern; Oswald Bill, GWV, Vokalwerke Kirchenkantaten Quasimodogeniti bis 3. Pfingsttag, Stuttgart 2005–2018, noch nicht abgeschlossen <> s. außerdem die Datenbank von Florian Heyerick Graupner-digital unter Verwendung der Systematik des GWV und im Vorgriff auf den noch nicht erschienenen verbleibenden Zeitraum des Kirchenjahres sowie die weltlichen Vokalwerke Graupners.
Editionen: Friedrich Noack, Christoph Graupner, Ausgewählte Kantaten, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1926 – Neuauflage hrsg. von Hans Joachim Moser, Wiesbaden 1960 (DDT Bd. 51/52) <> Einzelausgaben u. a. bei Schott, Bärenreiter, Peters, Nagel, Möseler sowie in jüngster Zeit vermehrt auch in kleineren Selbstverlagen (s. die Website der Christoph-Graupner-Gesellschaft Darmstadt e. V.). Eine wissenschaftliche Ausgabe wird seit 2020 durch die Christoph-Graupner-Gesellschaft Darmstadt in Angriff genommen.

Literatur — Friedrich Noack, Christoph Graupners Kirchenmusiken. Ein Beitrag zur Geschichte der Musik am landgräflichen Hofe zu Darmstadt, Leipzig 1916 <> Lothar Hoffmann-Erbrecht, Johann Christoph Graupner als Klavierkomponist, in: AfMw 10 (1953), S. 140–152 <> Noack 1967 <> Oswald Bill (Hrsg.), Christoph Graupner. Hofkapellmeister in Darmstadt 1709–1760, Mainz 1987 <> Christoph Großpietsch, Graupners Ouverturen und Tafelmusiken. Studien zur Darmstädter Hofmusik und thematischer Katalog, Mainz 1994 (BzmM 32) <> Andrew McCredie, Art. Christoph Graupner, in: NGroveD <> Christoph Hust, Art. Graupner, Christoph, in: MGG2P <> Ursula Kramer (Hrsg.), Musikalische Handlungsräume im Wandel. Christoph Graupner in Darmstadt zwischen Oper und Sinfonie, Mainz 2011 (BzmM 42) <> Dies., The Court of Hesse-Darmstadt, in: Music at German Courts, 1715–1760. Changing Artistic Priorities, hrsg. von Barbara M. Reul, Samantha Owens und Janice B. Stockigt, London 2011, S. 333–363 <> Beate Sorg, Christoph Graupners Musik zu zeremoniellen Anlässen am Hof der Landgrafen zu Hessen-Darmstadt. Zwischen „Frohlockendem Jubel-Geschrey“ und „Demüthiger Pflicht im Angesichte des Herrn“, Norderstedt 2015 <> Ursula Kramer, Allegorische Theaterformen am Hof von Hessen-Darmstadt und das Divertissement von 1717, in: Morgenglantz 29 (2019), S. 123–145 <> Dies., Konzertieren und kommunizieren. Zum Konzertschaffen von Christoph Graupner, in: Concertare – Concerto – Concert. Das Konzert bei Telemann und seinen Zeitgenossen. Konferenzbericht Magdeburg 2016, hrsg. von Ralph-Jürgen Reipsch, Carsten Lange und Brit Reipsch, Hildesheim 2020 (Telemann-Konferenzberichte XXI), S. 44–54 <> Dies., Fundament und mehr. Zur Verwendung des Fagotts bei Christoph Graupner, in: Geschichte, Bauweise und Repertoire des Fagotts, hrsg. von Christian Philipsen (in Verbindung mit Monika Lustig), Augsburg 2020 (Michaelsteiner Konferenzberichte 84), S. 51–84 <> Mitteilungen der Christoph-Graupner-Gesellschaft 2004–2018

Abbildung 1: Die umgebaute frühere Reithalle, die 1711 als Opernhaus mit Graupners Telemach eröffnet wurde; © Hessische Hausstiftung, Schlossmuseum Darmstadt

Abbildung 2: Titelseite von Graupners Konzert für Chalumeau, Fagott, Violoncello und Orchester GWV 306 (Digitalisat aus D-DS, mus. ms. 411/26)


Ursula Kramer

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  • von bkb
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