maderna

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MADERNA, BRUNO (in der Kindheit auch „Brunetto Grossato“) * Venedig 21. Apr. 1920 | † Darmstadt 13. Nov. 1973; Komponist und Dirigent

Der uneheliche Sohn wurde vom mutmaßlichen leiblichen Vater Umberto Grossato ausgebildet (das Studium in Venedig erfolgte erst ab 1941) und als dirigentisches Wunderkind Brunetto Grossato vermarktet, das von den Faschisten zum Leitbild der Jugend stilisiert wurde. Als Dirigent widmete sich Maderna später der Avantgarde, der klassischen Moderne, dem traditionellen Kanon und der Alten Musik. Diese befruchtete ihn in seinem Komponieren (Nono 1959) neben der Avantgarde. Der Hochschullehrer Maderna nahm alle diese Aspekte in den Blick – diese Verschränkung unterschiedlicher Tätigkeitsfelder ist für das Profil eines Musikers im 20. Jahrhundert außergewöhnlich und allenfalls mit Pierre Boulez zu vergleichen.

Im Zusammenhang mit dem Rhein-Main-Gebiet ist vor allem Madernas Rolle bei den Internationalen Ferienkursen für neue Musik (so der Name ab 1949, in den drei Jahren davor Ferienkurse für internationale neue Musik) zu würdigen. Zum ersten Mal nahm Maderna daran wohl 1949 teil und schon in diesem Jahr wurde ein Werk von ihm (Fantasia e fuga) im öffentlichen Rahmenprogramm uraufgeführt. Auch war von da an nahezu jedes Jahr eine seiner Kompositionen im öffentlichen Programm vertreten (siehe Werke), dies in aller Regel als Uraufführung (wobei den am Studio di fonologia musicale di Radio Milano erstellten Tonbandrealisationen elektronischer Musik dieser Status nur bedingt zugesprochen werden kann). Somit ergibt sich anhand von Madernas Mitwirkung an den Ferienkursen zunächst gleichsam ein Portrait des Komponisten. Zu vermeiden ist dabei aber der vordergründige Eindruck, Maderna habe sich im Wesentlichen entlang der aktuellen Trends der Avantgarde bewegt: Neoklassizismus – Zwölftontechnik – Serialismus – elektronische Musik – Aleatorik und offene Formen. Was diese scheinbar unterschiedlichen Phasen klar eint, ist – neben Madernas Orientierung an der Alten Musik – sein Verständnis von Form: Diese ist für ihn nicht eine normative Struktur, sondern entsteht aus künstlerischer Intention (Maderna 1965).

Erstmals dirigierte Maderna 1952 im öffentlichen Teil der Ferienkurse: Im Rahmen eines italienischen Opernabends wurde nicht nur die deutsche Erstaufführung der sacra rappresentazione Iob von Luigi Dallapiccola und die erste szenische Realisation von Goffredo Petrassis madrigale drammatico Coro di morti gegeben, Maderna dirigierte mit Orazio Vecchis comedia harmonica [sic!] L’amfiparnaso (1597) auch eine Madrigale-Komödie der Renaissance; die Idee einer Konvergenz von Alter und Neuer Musik kommt in diesem Debut zum Ausdruck. Weiterhin leitete er nur fünf Tage nach diesem Auftritt ein Konzert mit dem Landestheater-Orchester Darmstadt, in dem er nicht weniger als fünf Uraufführungen dirigierte (darunter die Lyrische Suite aus dem Ballett Der Idiot von Hans Werner Henze und das zweite Violinkonzert von Karel Goyvaerts). Maderna erwarb sich den Ruf eines verlässlichen „Uraufführungs-Dirigenten“ mit seiner Fähigkeit, komplizierteste unbekannte Partituren in kürzester Zeit zu erfassen und dem Orchester oder Ensemble unmittelbar zu vermitteln (so sein ehemaliger Assistent Lucas Vis; D-DSim). Maderna arbeitete in Darmstadt mit prominenten Gästen wie den Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle Dresden oder Het Residentie Orkest Den Haag zusammen. Mit der jahrelangen kontinuierlichen Anwesenheit junger ausgewiesener Interpret*innen für Neue Musik (zu nennen wären etwa der Flötist Severino Gazzelloni, die Pianisten Alfons und Aloys Kontarsky oder der Perkussionist Christoph Caskel) ergab sich die Gründung des Internationalen Kranichsteiner Kammerensembles (ab 1964 Internationales Darmstädter Kammerensemble). Maderna leitete diese Formation, die einen Prototyp für entsprechende Spezial-Ensembles für Neue Musik darstellt, während ihres Bestehens von 1961 bis 1966; daneben wurde diese auch von Pierre Boulez dirigiert.

Im internen Programm der Ferienkurse erscheint Maderna 1954 und 1955 als zum Vorstand der Internationalen Arbeitsgemeinschaft junger Komponisten gehörig. 1956 wird er erstmals offiziell als „Dozent“ geführt. Er bot hier zum einen Kurse zum Dirigieren und zur praktischen Aufführung an (1956, 1960, 1961, 1969), wobei er neben anderem zu dem damals keineswegs selbstverständlichen Mittel griff, unterschiedliche Interpretationen anhand von Aufnahmen zu vergleichen; weiterhin gab er Klassen zur Instrumentation (1958), zur Komposition (1965) und sogar einen Kurs „Mittelalter und neue Musik“ (1962), womit ebenso die Musik der Renaissance gemeint gewesen sein dürfte.

Maderna war ein europaweit gefragter Gastdirigent und ab 1971 direttore stabile der Orchestra sinfonica di Milano della RAI. Innerhalb der Region war er mehrfach Gast beim Sinfonie-Orchester des Hessischen Rundfunks, beim Großen Orchester des Südwestfunks (ab 1966 Sinfonie-Orchester des Südwestfunks) und beim Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks (ab 1959 Südfunk Sinfonieorchester). Mit den beiden letztgenannten sind auch Aufnahmen erhalten, so von Alban Bergs Symphonischen Stücken aus der Oper „Lulu“ und Robert Schumanns zweiter Sinfonie in C-Dur op. 61 mit dem Südwestfunk-Orchester und von Richard Strauss’ Tondichtung Tod und Verklärung op. 24 (TrV 158) mit dem Südfunkorchester.

Wegen seiner Lebensgefährtin und späteren zweiten Ehefrau, der Schauspielerin Beate Koepnick, verlegte Maderna Anfang der 1960er Jahre auch seinen privaten Lebensmittelpunkt nach Darmstadt, seine Grabstelle liegt dort auf dem Alten Friedhof.

Werke (soweit bei den Darmstädter Ferienkursen uraufgeführt oder aufgeführt, das Datum bezieht sich auf den entsprechenden Termin dort) — Fantasia e fuga (2 Kl.; UA 9. Juli 1949) <> Composizione N. 2 (Orch.; UA 26. Aug. 1950) <> Musica su due dimensioni (Fl., Tonband, Schlagzeug; Erstfassung vgl. Neufassung 1958; UA 20. Juli 1952) <> Kranichsteiner Kammerkantate (S, B, Orch.; Text von Kafka sowie Gramsci e di un condannato a morte della resistenza europea; UA 30. Juli 1953) <> Concerto (Fl., Orch.; 22. Aug. 1954) <> Quartetto per archi in due tempi (Auftragskomposition zehnte Ferienkurse 1955; UA 1. Juni 1955, weitere Aufführungen 18. Juli 1956 und 8. Juli 1962) <> Notturno (Tonband; 20. Juli 1956 und 26. Juli 1957) <> Syntaxis (Tonband; 26. Juli 1957) <> Continuo (Tonband; 4. Sept. 1958) <> Musica su due dimensioni (Fl., Tonband; Neufassung (Urfassung s. o. 1952); UA 5. Sept. 1958, weitere Aufführung 4. Sept. 1959) <> Concerto (Kl., Orch.; UA 2. Sept. 1959) <> Dimensioni N. 2 – Invenionzi su una voce. Musica elettronica e voce feminile su fonemi di H. G. Helms (Tonband, Sopran; deutsche EA 16. Juli 1960) <> Serenata IV (Fl., Tonband, Instr.; UA 4. Sept. 1961) <> Concerto N. 1 (Ob., Kammerorch.; 24. Juli 1963) <> Dimensioni IV [= Dimensioni III (Solo-Fl., Orch) und Stele per Diotima (Orch.)] (UA 23. Juli 1964) <> Suite da Hyperion (Orchester) – cadenza (Solo-Fl.) – Entropia II (Orchester) (UA 19. Juli 1965) <> Le rire (Tonband, Solo-Fl.) (21. Aug. 1966) <> Aulodia per Lothar (Oboe d’amore; 30. Aug. 1966)

Quellen — Nachlass, Musik- und Textmanuskripte, Handexemplare, Korrespondenz, Photographien, Programme und Rezensionen, Tonträger; CH-Bps <> Texte, Korrespondenz, Photographien, Verwaltungsunterlagen, Tonmitschnitte; D-DSim <> 300 teilweise Maderna gewidmete Partituren mit Werken anderer Komponisten aus dem Nachlass, 2003 erworben; D-F (Na Mus 43) <> Bruno Maderna, La Révolution dans la continuité, in: Preuves 15 (1965), Nr. 177, S. 28f. <> Bruno Maderna. Documenti, hrsg. von Rossana Dalmonte und Mario Baroni, Mailand 1985 <> Carteggio Bruno Maderna – Wolfgang Steinecke, hrsg. von Rossana Dalmonte, Lucca 1985 (Quaderni di Musica/Realtà 49)

Literatur — Luigi Nono, Presenza storica nella musica d’oggi (1959), in: Luigi Nono. Scritti e colloqui, hrsg. von Angela Ida De Benedictis und Veniero Rizzardi, Lucca 2001 (Le sfere 35), Bd. 1, S. 46–56 <> Raymond Fearn, At the doors of Kranichstein. Maderna’s Fantasia for 2 Pianos, in: Tempo 163 (1987), S. 14–20 <> Raymond  Fearn, Bruno Maderna, Chur 1990 (Contemporary Music Studies 3) <> René  Karlen und Maurizio  Romito, Bruno Maderna: Musikmanuskripte, Winterthur 1990 (Inventare der Paul Sacher Stiftung 6) <> Horst Weber, Figures et structures. Madernas formative Jahre um 1950, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 34 (1992), S. 1–46 <> Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse, hrsg. von Rudolf Stephan, Stuttgart 1996 <> Im Zenith der Moderne. Die internationalen Ferienkurse für neue Musik Darmstadt 1946–1966. Geschichte und Dokumentation, hrsg. von Gianmario Borio und Hermann Danuser, 4. Bde., Freiburg i. Br. 1997 <> Rossana Dalmonte, Art. Maderna, Bruno, in: NGroveD <> Joachim Noller, Art. Maderna, Bruno, in: MGG2P <> Bruno Maderna. Studi e testimonianze, hrsg. von Rossana Dalmonte und Marco Russo, Lucca 2004 (Quaderni di Musica/Realtà 53)

Abbildung: Bruno Maderna bei einer Probe des Orfeo von Monteverdi im Konzertsaal des Tivoli (Lepelenburg) von Utrecht 1966 digital


Peter Niedermüller

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