==== Tony Canstatt ==== \\ **CANSTATT (auch Cannstatt bzw. Canstadt), EMMA ANTOINETTE HENRIETTE (üblicherweise Tony, gelegentlich Antonie)** * Colmar 31. Dez. 1871 (nicht 1872) | † Würzburg 1. Okt. 1958; Sängerin, Schriftstellerin, Malerin {{ :canstatt.jpg?nolink&400|}} Tony Canstatt wurde in eine ungewöhnlich vielseitige Familie hineingeboren. Ihr Vater Oscar (* Ansbach 30. Okt. 1842 | † Bad Tiefenbach (heute Gemeinde Oberstdorf/Allgäu) 12. Aug. 1911) bereiste als Naturwissenschaftler und Koloniedirektor acht Jahre lang Brasilien. Dessen Vater Carl Friedrich (1807–1850) war Sohn eines aus Bingen am Rhein gebürtigen Arztes jüdischer Herkunft und selbst namhafter Mediziner. Zugleich war er ein talentierter Cellospieler und bewegte sich während eines Aufenthalts 1831/32 in Paris in den Kreisen um Felix →Mendelssohn Bartholdy. Seine Frau Laura geb. Diruf (1811–1906) entstammte einer Würzburger Medizinerfamilie und ist als Landschaftsmalerin hervorgetreten. Musikalische Ambitionen werden auch der Familie von Tonys Mutter Emma geb. Trein (* Kempfeld (Hunsrück) 5. Nov. 1850 | † München 11. Dez. 1926) nachgesagt, die mit ihren Eltern nach Brasilien ausgewandert war. Sie und Oscar Canstatt lernten sich in Santa Cruz do Sul kennen, wo ihr Vater als Hüttenbeamter tätig war, heirateten dort 1870 und gingen offenbar erst kurz vor Tonys Geburt zurück nach Europa. Oscar trat zunächst als Forstwissenschaftler in Colmar in elsässisch-lothringische Dienste, machte sich zunehmend als Autor geografischer Beiträge einen Namen und zog spätestens 1876 als Zeitungsredakteur mit seiner Familie (der sich 1880 Oscars früh verwitwete Mutter Laura anschloss) nach Kassel, 1880 nach München und 1885 schließlich nach Worms, wo er als Mitarbeiter der //Wormser Zeitung// und als Lokalhistoriker tätig wurde. MüllerDML zufolge erhielt Tony Canstatt hier Klavierunterricht bei Musikdirektor Karl Kiebitz (1843–1927). Bislang nicht zu belegen ist der Besuch der Kgl. Musikschule in Würzburg, wenngleich familiäre Beziehungen in die Main-Stadt bestanden. Über ihre Gesangsausbildung bei Helene Seubert-Hausen in Mannheim und Marie Schröter-Hanfstängel in Frankfurt berichtet der //Wiesbadener General-Anzeiger// (21. Nov. 1896) im Rahmen der Ankündigung ihres ersten Wiesbadener Konzerts (mit [[niemann|Rudolph Niemann]] am Klavier) nach dem Umzug der Familie Ende September 1896. Bereits seit 1893 als Konzertsängerin tätig, machte sich Tony Canstatt mit „rundem, symphatischem Ton“ ihrer Mezzostimme (//Wiesbadener General-Anzeiger// 20. Dez. 1904) deutschlandweit sowie bei Konzertreisen (Holland 1901, Triest 1900, 1904) als Oratoriensängerin (Händel, Bach) einen Namen. Seit 1899 unterrichtete sie am [[freudenberg|Freundenbergschen]], 1905–1907 am [[spangenberg|Spangenbergschen]] Konservatorium in Wiesbaden; 1908 gehörte sie, u. a. neben [[urlaub|Ludwig Urlaub]], dem „engeren Komitee“ zur Gründung des Wiesbadener //Bach-Vereins// an. 1903 gründete sie mit der Sopranistin Mathilde →Pfeiffer-Rißmann und der Altistin Mathilde Haas (1863–1930) das //Rheinische Terzett// (Klavierbegleitung: Karl →Pfeiffer); das Ensemble gab, u. a. mit Werken von [[langhans|Louise Langhans-Japha]] und [[dorn|Otto Dorn]], regelmäßig Konzerte in der Region (Wiesbaden, Mainz, Worms, Frankfurt), aber auch in Gotha, und insbesondere in Berlin feierte es „die glänzendsten Erfolge“ (//Wiesbadener General-Anzeiger// 27. Okt. 1904). Nachdem sich das Terzett 1905 mutmaßlich infolge der Heirat von Mathilde Haas-Knauer und ihres Wegzugs nach München aufgelöst hatte, begann Tony Canstatt, sich schriftstellerisch zu betätigen. Neben Texten zum lokalen Musikleben (Nekrologe zu Louise Langhans-Japha und [[wilm|Nicolai von Wilm]], Berichte über [[schuricht|Carl Schuricht]] und die „Rheinsagenspiele“ in Rüdesheim) und Beiträgen zu musikpsychologischen Aspekten zeigen ihre Texte, die überwiegend in der //Neuen Musik-Zeitung// veröffentlicht wurden, ein dezidiertes Interesse an Frauen-Themen, allgemein-kulturellen Phänomenen sowie an der eigenen Familiengeschichte. Im Juli 1912, nicht lange nach dem Tod des Vaters, zog Tony Canstatt mit ihrer Mutter nach München. Dort trat sie weiterhin als Konzertsängerin vor allem bei Wohltätigkeitsveranstaltungen in Erscheinung und war als Gesangslehrerin aktiv. Zunehmend gewann für sie, wie zuvor für ihre Großmutter Laura Diruf, jedoch die Malerei an Bedeutung, wobei sie sich (möglicherweise aus kommerziellen Gründen, da sie zunächst ohne feste Stellung war) auf Bildkopien und Ölgemälde im Stile bekannter Meister spezialisierte. 1930 und 1931 war Canstatt als Mitglied des //Bunds kopierender Künstler e. V.// jeweils mit einem Gemälde (1930 //Kloster San Geronimo in Kastilien// nach Fritz Bamberger; 1931 //Die Morgenstunde// nach Moritz von Schwind) in der Kunstausstellung im Münchener Glaspalast vertreten. Einige Bilder verkaufte sie dem Erzbistum München – aus welchen Gründen sie 1921 von der evangelischen zur katholischen Konfession übergewechselt war, ist unbekannt. Den Tagebüchern Kardinal Michael von Faulhabers zufolge, mit dem sie seitdem in regelmäßigem vertrauten Kontakt stand, besaß sie „einen Bischofsring von Mainz mit dem Rad und [hat] viel Religionswissenschaft studiert.“ (Eintrag vom 7. Dez. 1921). Seit 1930 sicherte eine Halbtagsstelle als Sekretärin bei der //Züricher Lebensversicherung// ihren Lebensunterhalt; 1941 musste sie diese aus Altersgründen aufgeben. Nach den verheerenden Luftangriffen auf München 1944 fand Tony Canstatt schließlich neben weiteren Flüchtlingen Zuflucht bei Gräfin Hildegard von Rechteren-Limpurg im Schloss Sommerhausen bei Würzburg. Der Wunsch, nach Kriegsende nach München zurückzukehren (Tagebucheintrag Kardinal von Faulhaber, 17. Juli 1946), ließ sich nicht realisieren, sodass sie bis zu ihrem Tod in Sommerhausen blieb. **Schriften** — //Kulturgeschichtliches aus Westfalen. Festgehalten im Museum zu Dortmund//, in: //Rheinisch-westfälischer Anzeiger// 9. Febr. 1905, S. 13; 14. Febr. 1905, S. 13 <> //Was alte Kunsttaschenuhren erzählen//, in: //Über Land und Meer. Oktav-Ausgabe „Der Monat“// 1905/06, S. 68–76 <> //Musikpflege denkwürdiger Frauen//, in: //Der Musiksalon// 1909 <> //Die Genossenschaft der Tonsetzer, beleuchtet vom Standpunkte reproduzierender Künstler//, in: //Der Musiksalon// 1909 <> //Eine 83jährige Komponistin// [Louise Langhans-Japha], in: //Neue Musik-Zeitung// 1909, S. 257–258 <> //Erziehung zum Musikgeschmack//, in: //Der Musiksalon// 1910 <> //Luise Langhans-Japha. Nachruf//, in: //Der Musiksalon// 1911, S. 215 <> //Zur Frage des Lampenfiebers//, in: //Der Musiksalon// 1911 <> //Nicolai von Wilm †//, in: //Der Musiksalon// 1911 <> //Friedrich Lienhard//, in: //Nord und Süd// 1911, S. 298–304 <> [Nekrolog Nicolai von Wilm], in: //Neue Musik-Zeitung// 1911, S. 256 <> //Rheinsagenspiele auf der Brömserburg zu Rüdesheim a. Rh.//, in: //Neue Musik-Zeitung// 1911, S. 477 <> //Drei Christ-Abende//, in: //Prochaskas Familien-Calender// 1912 <> //Karl Schuricht//, in: //Neue Musik-Zeitung// 21. März 1912, S. 257–258 <> //Atmungskunst im Dienste der Wissenschaft und Kunst//, in: //Neue Musik-Zeitung// 1912, S. 180–181 <> //Unsere Künstler. Emilie Kaulla †//, in: //Neue Musik-Zeitung// 1913, S. 74–75 <> //Das poetische Empfindungsleben des reproduzierenden Musikers//, in: //Neue Musik-Zeitung// 1913, S. 250–252 <> //Erlebnisse eines lungenleidenden deutschen Arztes// [Großvater Prof. Dr. Carl Canstatt] //in Italien um die Mitte des 19. Jahrhunderts//, in: //Zeitschrift für Balneologie// 1913/14, Nr. 9 <> //Heinrich Schalit: Jugendland//, in: //Neue Musik-Zeitung// 1914, S. 142 <> //Chansons und „societés chantantes“ im alten Frankreich//, in: //Neue Musik-Zeitung// 1914, S. 198 <> //Pater Dr. Paul Hartmann v. An der Lan-Hochbrunn †//, in: //Neue Musik-Zeitung// 1915, S. 83 <> //Frau Ajas Musikbeziehungen//, in: //Neue Musik-Zeitung// 1915, S. 131–134 <> //Aus den Erinnerungen der Heidelberger Familie Diruf//, in: //Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der rheinischen Pfalz// 1928, S. 481–496 **Quellen** — Zivilstandsregister Herrstein (heute Verbandsgemeinde Herrstein-Rhaunen bei Birkenfeld); Zivilstandsregister Colmar; Standesamtsregister Wiesbaden <> Einwanderungsverzeichnis Rio Grande, 29. Sept. 1862 <> Trauregister Santa Cruz, Brasilien (Ev. Gemeinde) <> Melderegister Worms; D-WOsta (Abt. 5 Nr. 5747 bzw. Nr. 5766) – freundliche Mitteilung von Frau Margit Rinker-Olbrisch, Worms <> Melderegister München – freundliche Mitteilung von Frau Angela Stilwell, Stadtarchiv München <> Einwohnerkartei Sommerhausen – freundliche Mitteilung von Frau Irene Meeh M.A., Stadtarchiv Sommerhausen <> Adressbücher Breslau, Kassel, München, Wiesbaden <> Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Carl Friedrich Canstatt 2. Apr. 1843; //Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche gesammelte Briefe// (Band 9, Brief Nr. 3903), Kassel 2015 <> Lebenserinnerungen von Tony Canstatts Tante Hedwig Textor-Trein [[https://gen.heuser.pro.br/de/lebens-erinnerungen-von-hedwig-textor-trein/|online]] <> zahlreiche Erwähnungen (1921–1948) in den Tagebüchern von Michael Kardinal von Faulhaber ([[https://www.faulhaber-edition.de|online]]) – Dank an Dr. Peer Volkmann und Julius Kiendl M.A., Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (Faulhaber-Edition), für die Mitteilung relevanter, noch nicht veröffentlichter Tagebucheinträge <> //Kölnische Zeitung// 4. Jan. 1872 (Geburtsanzeige), 20. Dez. 1903; //Alzeyer Zeitung// 14. Sept. 1893; //Wormser Tagblatt// 25. Sept. 1893; //Signale für die musikalische Welt// Nr. 44 (Sept.) 1893, 19. Aug. 1896 (Agentur-Anzeige), 4. Juni 1913; //Österreichische Musik- und Theaterzeitung//, Beilage zu Nr. 2 (Okt.) 1893; //Wiesbadener General-Anzeiger// 21. Nov. 1896, 17. Nov. 1896, 2. Dez. 1903, 12. Febr. 1904, 27. Okt. 1904, 20. Dez. 1904, 9. Apr. 1905 (1. Beilage), 3. Jan. 1908; //Märkischer Sprecher// (Bochum) 24. Nov. 1897, 4. Dez. 1897; //Echo der Gegenwart// (Aachen) 11. Okt. 1898; //Emser Fremden-Liste// 13. Sept. 1899; //Wiesbadener Tagblatt// 30. Sept. 1900, 26. Nov. 1903, 1. Dez. 1903 (Rheinisches Terzett), 28. Okt. 1904, 10. Jan. 1905, 18. Sept. 1905, 26. Nov. 1908, 15. Aug. 1911 (Nekrolog Oskar Canstatt); NZfM 12. Dez. 1900 (Konzert Triest); //Allgemeine Zeitung// (München) 12. Dez. 1900, 12. Apr. 1913; //Dagblad van Zuid Holland en ’s Gravenhage// 6. Aug. 1901; //General-Anzeiger// (Duisburg) 28. Nov. 1901 (biogr. Angaben zum Vater); //Berliner Tagblatt und Handels-Zeitung// 23. Febr. 1904; //Norddeutsche Allgemeine Zeitung// 24. Febr. 1904; // Die Musik// Bd. XIII, 1904/05, S. 187; //Dortmunder Zeitung// 12. Jan. 1906; 17. Jan. 1906; //Honnefer Volkszeitung// 13. Apr. 1907, 26. Okt. 1907; //Münchner neueste Nachrichten// 29. Okt. 1912 (Vorabend-Blatt), 1. Dez. 1914, 29. Apr. 1915, 23. Apr. 1921, 14. Dez. 1926 (Todesanzeige der Mutter) <> //Münchener Kunstausstellung 1930 im Glaspalast. Amtlicher Katalog//, München 1930, S. 86 <> //Münchener Kunstausstellung 1931 im Glaspalast. Amtlicher Katalog//, München 1931, S. 79 <> Schwarzweiß-Reproduktion eines der Ölbilder in: Karl Beyer, //Apothekersleute in Sommerhausen//, [Sommerhausen] 1980, S. 58 **Literatur und Referenzwerke** — Art. //Canstatt, E. A. Oskar//, in: Herrmann Degener, //Wer ist’s?//, III. Ausgabe, Leipzig 1907, S. 202 <> Ursula Düring, //Sommerhausen: Erinnerungen an eine Kindheit im Schloss//, in: //Main-Post// 16. Juli 2009 <> Art. //Canstatt, Carl Friedrich//, in: Wolfgang Appell, //Juden in Erlangen//, Bd. I, Erlangen 2021, S. [159]–[160] <> MüllerDML Abbildung: Ankündigung des ersten Konzerts des //Rheinischen Terzetts// am 30. Nov. 1903 im Großen Casinosaal, Kurhaus Wiesbaden; //Wiesbadener Tagblatt// 29. Nov. 1903 (Beilage) ---- Gudula Schütz